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Leitartikel
Das Verhältnis zum Staat

Wo Amerika
und Europa
sich trennen


Von Jürgen Liminski
Als die »Mayflower« 1620 in der neuen Welt landete, hatte Europa gerade begonnen, sich zu zerfleischen. Die Pilgrimfathers siedelten im Namen der Religion, die Europäer töteten im selben Namen. Nach dreißig Jahren knieten die einen aus Dankbarkeit, die anderen aus Erschöpfung.
Die Europäer übergaben ihr Schicksal fortan den Fürsten und Königen, und als sich die Völker im Namen von Gleichheit und Brüderlichkeit von ihnen befreien wollten, da wechselten sie nur den Herrn und begaben sich in ideologische Sklavereien namens Nationalismus, Sozialismus, Kommunismus oder Kombinationen aus diesen Ismen. Der politisch-religiöse Antrieb erlahmte, die Säkularisierung verwüstete auch die Seelenlandschaften. Wer heute ein religiöses Bekenntnis wagt, wird wie Buttiglione gnadenlos - man könnte auch sagen: fanatisch gottlos - niedergemacht.
Die Amerikaner dagegen verbanden ihre Religiosität in der einzigen Staatsform, die Individualismus und Solidarität zu vereinen vermag, die liberale und selbstverantwortliche Demokratie. Schon Alexis de Tocqueville bezeichnete die amerikanische Staatsform als Religion mit demokratischen Zügen, und er sah auch die Verbindung, ja, die wechselseitige Abhängigkeit: »Nie war ich überzeugter als heute, dass nur die Freiheit und die Religion in einer gemeinsamen Bemühung die Menschen aus dem Sumpf herausziehen können, in den die Demokratie sie stößt, sobald eine dieser Stützen ihnen fehlt.«
Die persönliche Freiheit des einzelnen als Maxime des Lebens.
Der Unterschied ist: In Europa soll der Staat diese Freiheit garantieren, in Amerika gilt die Religion als Garant der Freiheit. Hier liegt der Punkt, wo alte und neue Welt sich trennen, wo Europa und Amerika auseinanderzustreben beginnen. Die Amerikaner erwarten das Heil nicht vom Staat. Der Staat soll hier und da helfen, der »Vater unser« ist er nicht. In Europa heißt das Gemeinwesen mittlerweile Vater Staat.
Dieser Unterschied macht die Drift aus, die auch im kommenden Jahr das transatlantische Verhältnis bestimmen wird. Europa stagniert, weil die Spannkraft der inneren Triebfeder erloschen ist. Die Kraft des Visionären fehlt.
In Amerika ist der Geist der Pilgerväter, das Leben persönlich zu erobern und zum Gelingen zu führen, noch lebendig. Er wirkt bis tief in die Politik hinein. Deshalb kann das Land sich erholen und zu neuen Ufern aufbrechen.
Es geht aber nicht nur um Wirtschaft. Viel wichtiger noch sind die geistigen Wurzeln mit Blick auf die Herausforderungen des Islam. Wenn Europa sich nicht auf seine geistigen Wurzeln besinnt, wird es gegenüber Amerika und Asien weiter zurückfallen und in seinem dekadenten Luxus zum gierig erstrebten Beutegut für die radikalen Gotteskrieger werden
Auf die Besinnung also kommt es zunächst an. Das derzeitige politische Personal in Deutschland allerdings gibt da an der Schwelle zum neuen Jahr wenig Anlass zur Hoffnung.

Artikel vom 30.12.2004