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Wie ein Wunsch
doch noch in
Erfüllung ging

Ein geheimnisvolles Paket im Spital

Von Franz Klement
Meine Erinnerungen an die Jahre meiner Kindheit in Iglau, der Stadt auf der böhmisch-mährischen Höhe, reichen weit zurück in die Zeit der frühen Dreißigerjahre. Besonders in mir lebendig geblieben ist Weihnachten in der Familie.

Ich denke an den Weihnachtsmarkt auf dem großen Hauptplatz, die Holzbottiche der Fischverkäufer mit den Karpfen und den häufig sehr frühen Winter mit Schnee und Eis und an die Schlittengespanne der Bauern mit den vielen Glöckchen. Die Zeit war damals für die deutschen, tschechischen und jüdischen Bewohner von Iglau sehr schwer. Die Welt befand sich in der Wirtschaftskrise, in Iglau gab es eine hohe Zahl von Arbeitslosen, zu denen auch mein Vater gehörte. Unvergessen und fest verankert in meinem Gedächtnis ist ein Weihnachtsfest aus dieser Zeit in meiner Familie, von dem ich erzählen will.
Die Spitalgasse, in der wir in Iglau wohnten, war immer sehr belebt. Sie hieß nach der Gründung der ersten Tschechoslowakischen Republik jedoch »Komenskeho« nach dem bedeutenden tschechischen Theologen und Pädagogen Jan Amos Comenius. Die Deutschen aber sprachen stets nur von der Spitalgasse. Zahlreiche Geschäfte, das Grand Hotel, das Stadttheater, zwei Banken, Cafés und Gastwirtschaften - sie alle zogen viele Menschen an. Dazu kamen Hunderte von Arbeiterinnen in der staatlichen Tabakfabrik, die täglich zweimal zu und von ihrer Arbeitsstelle durch die Spitalgasse zogen.
Wir wohnten in zwei kleinen Zimmern im Hinterhaus des ehrwürdigen, ehemaligen Patrizierhauses Nummer 10. Schon mein Großvater war hier Hausmeister gewesen. Von ihm übernahm mein Vater diese Aufgabe und auch die dazu gehörende kleine Wohnung, als er 1921 aus russischer Kriegsgefangenschaft zurückkehrte, heiratete, und viele Jahre ohne Arbeit blieb. Er war von Beruf Schlosser. Bevor er in den Krieg zog, hatte er beim Telegraphenamt gearbeitet und sich dort Kenntnisse im Umgang mit Elektrizität und den entsprechenden Geräten angeeignet. Als Hausmeister führte er nicht nur in der Spitalgasse 10, sondern auch in der Nachbarschaft Reparaturen aus.
Die Geschäfte in unserer Nachbarschaft hatten ein qualitativ und in den Preisen unterschiedliches Warenangebot. In guter Erinnerung sind mir zwei Läden, deren Besitzer verwandt und Juden waren. Nicht nur ihr Sortiment war unterschiedlich, auch sie selbst ließen in ihrer Kleidung und im Auftreten unschwer erkennen, wer die zahlungskräftigere Kundschaft hatte.
Ein sehr feines, mit guter, modischer Ware ausgestattetes Herren- Bekleidungsgeschäft mit großen Schaufenstern gehörte dem Einen. Ein Geschäft mit kleinen Schaufenstern, in dem die unterschiedlichsten gebrauchten Waren wie Bekleidung, Wäsche, Schuhe und Haushaltsartikel feilgeboten wurden, gehörte dem anderen Geschäftsmann. Beide ließen bei meinem Vater Reparaturen ausführen. Sie gingen stets freundlich mit ihm und auch mit uns Kindern um. Unser Vater hielt uns deshalb an, freundlich zu grüßen. Und wenn wir einen reparierten Gegenstand zurückbrachten, hatten wir eine Empfehlung für weitere Aufträge abzugeben. Selten vergaßen die Geschäftsleute, uns ein paar Heller als Botenlohn zu geben.
Der Inhaber des Gebrauchtwaren-Geschäfts mit Namen David war ein fröhlicher und gutmütiger Mann. Er mochte Kinder und gestattete uns sogar, gebrauchtes Spielzeug, wie zum Beispiel ein Auto zum Aufziehen oder eine Blechlokomotive, in die Hand zu nehmen. Er wusste genau, dass unsere Eltern niemals ein solches Spielzeug hätten kaufen können.
Zurück zum Weihnachtsfest im Jahr 1934. Die Inhaber der Geschäfte dekorierten ihre Auslagen weihnachtlich und boten ihre Waren verführerisch an. Es war die Zeit gekommen, in der die Menschen öfter als sonst vor den Schaufenstern stehen blieben und nach einem Geschenk Ausschau hielten. Für die meisten blieb es dabei, denn - wie gesagt - es waren damals schlechte Zeiten, für Käufer und Verkäufer.
Wen wunderte es, dass die Waren des Gebrauchtwarenhändlers mehr beachtet wurden als die teuren modischen Artikel im gegenüberliegenden Geschäft. In dem kleinen Schaufenster gab es Nützliches und Schönes, das man schon für wenige Kronen kaufen konnte.
Für meinen Bruder und mich war das Schaufenster um diese Zeit ebenfalls interessanter als in der restlichen Zeit des Jahres. Unser sehnlichster Weihnachtswunsch waren Schlittschuhe. Uns war aber auch klar, dass der Wunsch kaum in Erfüllung gehen würde. Es blieb uns jedoch eine kleine Hoffnung, denn unser Vater sagte: »Falls ich noch einen Reparaturauftrag vor Weihnachten bekomme und damit so viel verdiene, dass der Kauf eines Karpfens gesichert ist und Herr David vielleicht gebrauchte Schlittschuhe anbietet, dann lässt es sich mit dem Christkind über eure Wünsche reden.«
Und tatsächlich: Wenige Tage vor Weihnachten lagen im Schaufenster des Herrn David zwei Paar wunderbare Schlittschuhe. Täglich standen wir davor und drückten uns die Nasen platt. Ein Preisschildchen konnten wir jedoch nicht entdecken. Auf beiden Schlittschuhen war das Wort »Canada« eingraviert. Für uns ein Zeichen, dass die Schlittschuhe nicht billig zu haben waren.
Unser Vater, dem wir von unserer Entdeckung erzählten, war der selben Meinung. Er sagte aber: »Geht zu Herrn David und fragt ihn, was die Schlittschuhe kosten und ob es eine Möglichkeit gibt, sie euch zu verkaufen. Erinnert ihn daran, dass ihr ihm oft beim Schneeräumen geholfen und dafür ein kleines Taschengeld bekommen habt. Sagt ihm, dass ihr auch in diesem Winter wieder helfen wollt und er euch dafür kein Geld zu geben braucht. Habt nur Mut und geht beide zusammen zu ihm. Wer weiß, ob er die Schlittschuhe sonst noch vor Weihnachten verkauft.« Dazu jedoch kam es nicht mehr, denn es geschah etwas Unvorherzusehendes.
Meine beiden Schwestern und wir zwei Brüder teilten uns in unserer Kindheit jeweils ein Bett. Zwei Tage vor dem Heiligen Abend wurde ich schon sehr früh wach. Mein Bruder Ernst wälzte sich hin und her. Er jammerte laut. Wie sich herausstellte, hatte er hohes Fieber. Sein Körper war nass von Schweiß, zeigte überall große rote Flecken.
Mein Vater rief sofort einen Arzt. Der stellte fest, dass unser Ernst an Scharlach erkrankt war und er sofort in das Spital gebracht werden musste. Außerdem ordnete er an, dass unsere kleine Wohnung noch am selben Tag desinfiziert (unsere Eltern nannten das ausgeräuchert) werden müsse. Zwei Tage dürften wir sie nicht betreten.
Die Ankunft des Rettungswagens und der Männer des Gesundheitsdienstes mit ihren »Räucherutensilien« waren nicht nur für die Bewohner des Vorderhauses interessant, auch die Passanten blieben auf dem Gehsteig vor dem großen Haustor stehen. Mein Vater begleitete unseren Bruder im Rettungswagen in das Spital. Ich erinnere mich noch gut daran, dass er uns allen aus dem kleinen Fenster in der Hintertüre des Rettungswagens zuwinkte. Unsere Mutter weinte.
Alles vollzog sich sehr schnell. Eine Nachbarin half unserer Mutter beim Packen. Sie begleitete uns auch auf dem Weg zum Minoriten-Kindergarten, in dem unsere Mutter arbeitete. Es gab schon Ferien und so konnten unsere Familie die zwei Tage vor dem Weihnachtsfest dort bleiben. Am Heiligen Abend waren wir wieder zu Hause.
Zu unserer Überraschung hatte unser Vater bereits den Tannenbaum geschmückt. Wir Kinder nahmen jedoch einen ätzenden, unangenehmen Geruch in unserem Zimmer wahr. Unser Vater sagte dazu: »In eurem Zimmer wurde stärker geschwefelt. Der Duft des Tannenbaums wird sich aber bald durchsetzen. Wir wollen das Fenster noch geöffnet lassen.« So saßen wir dann mit Mantel und Mütze am Tisch.
Mittags kam unser Vater mit der Nachricht nach Hause, dass wir am späten Nachmittag Ernst im Spital besuchen dürften. Das löste bei uns allen große Freude aus. Wir konnten es kaum erwarten, mit unseren Eltern in die nahe gelegene Klinik zu gehen.
Am Eingang der Isolierstation für Kinder wurden wir von einer sehr freundlichen, tschechisch sprechenden Ordensschwester empfangen. Sie führte uns in einen Raum, in dem sich schon mehrere Besucher befanden. Das Weihnachtsgeschenk für unseren Bruder Ernst übergab mein Vater der Schwester. Es war ein Baukasten mit Holzbausteinen. Ich hatte ihn noch vor wenigen Tagen im Schaufenster des Herrn David gesehen. Die Schwester erklärte unseren Eltern allerdings, dass alles, was die Kinder geschenkt bekämen, nach ihrer Entlassung auf der Station bleiben müsse und nicht nach Hause mitgenommen werden dürfe.
Es dauerte nicht lange, da wurden wir gebeten, in einen Flur zu kommen, dessen große Fenster den Blick in die Krankenzimmer zuließen. Eine Verständigung war nur durch Zeichen möglich. Unser Bruder lag mit hochrotem Gesicht in einem Bett in der Nähe des Tannenbaumes, an dem schon die Kerzen brannten. Er winkte uns zu. Ein Zeichen, dass er uns erkannt hatte. Unsere Mutter sagte immer wieder: .»Der arme Ernst, mein lieber Bua.«
Durch die Fenster auf der anderen Seite des Zimmers konnte man sehen, dass es draußen schon dunkel geworden war. Plötzlich hörten wir die Klänge der Susanna-Glocke von der Pfarrkirche St. Jakob. Sie hatten nicht nur die Mauern der Isolierstation des Spitals durchbrochen. Sie erreichten auch die Menschen, Deutsche und Tschechen, die auf dem Flur - dicht gedrängt - vor den großen Fenstern standen. Sie erreichten auch die kranken Kinder, denn die Schwestern gaben durch Zeichen zu verstehen, dass auch sie die Susanna-Glocke hörten.
Und noch eine Überraschung gab es im Spital. Eine Schwester kam mit einem großen Paket zu meinem Vater und sagte: »Das wurde jetzt für Ihre beiden Buben abgegeben. Ich habe dem Überbringer gesagt, dass alles, was den Kindern im Krankenzimmer ausgehändigt wird, nicht mit nach Hause genommen werden darf.«
»Na, dann werde ich es gleich hier aufmachen. Wir werden ja sehen ob wir es dem Ernst geben können,« antwortete mein Vater.
Er öffnete das Paket - und es kamen zwei Paar Schlittschuhe zum Vorschein. Herr David hatte sie geschickt, als er von meinem Vater erfuhr, dass Ernst in das Spital gebracht werden musste. Auf einer Karte schrieb er: »Ich hoffe, die Schlittschuhe helfen, dass Du bald wieder gesund bist.» Er sei überzeugt, dass der Winter länger anhalten werde als die Krankheit. Was die Schlittschuhe für mich betraf, schrieb er, ich könne, wie schon im vergangenen Jahr, wieder beim Schneeräumen vor seinem Geschäft helfen.
Wir haben nicht erfahren, ob unser Vater bei all dem mitgewirkt hatte, denn für unsere beiden Schwestern befanden sich zwei kleine Puppen in dem Paket. Die erhielten sie aber erst zu Hause, unter dem Weihnachtsbaum.
Mein Vater und ich hielten die Schlittschuhe vor dem großen Fenster des Krankenzimmers so hoch, dass auch mein Bruder sie sehen konnte. Er winkte und lachte; das war für uns alle das schönste Weihnachtsgeschenk, auch wenn unsere Mutter ihre Tränen nicht zurückhalten konnte.
Gleich nach Weihnachten schneite es sehr heftig. Und ich half Herrn David eifrig beim Schneeräumen. Er freute sich darüber sehr; auch, dass ihm die Überraschung mit den Schlittschuhen gelungen war. »Ich habe euch beide doch oft beobachtet, als ihr vor dem Schaufenster standet. Und da ich die Schlittschuhe nicht verkaufen konnte, habe ich sie euch eben geschenkt.« Ende Januar wurde Ernst aus dem Krankenhaus entlassen. Es blieb uns noch viel Zeit zum Schlittschuhlaufen auf dem zugefrorenen Rossteich.
Nur wenige Jahre später gab es in lglau weder das feine Herren-Bekleidungsgeschäft noch das des Gebrauchtwarenhändlers David. Für die Juden begann auch in lglau eine sehr schwere Zeit. Ich habe die Erinnerungen an den jüdischen Menschenfreund fest in mir bewahrt. Es sind kostbare Mosaiksteinchen aus der Zeit meiner Kindheit in Iglau.

Artikel vom 29.12.2004