03.01.2005 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 



Das Besondere war allerdings eine mit Talg gewichste Rutschbahn, die gegenüber der Insel aufgestellt war. Oberhalb befanden sich riesige Tierkäfige, von denen aus die Rutschbahn mitten in das tiefe Wasser führte. Zuerst wurden drei Stiere in den Teich gejagt, danach Eber und am Ende, zum Jubel unzähliger Schaulustiger, noch zwei Kamele. Die Tiere wurden von Kähnen herab mit langen Lanzen derart traktiert, bis sie, panisch geworden, in die gewünschte Richtung schwammen. Als sie in die Nähe der Insel getrieben waren, wurden sie vom König, unter dem Gejohle der Massen, mit Büchsenschüssen nach und nach erlegt ÉJedes Jahr waren Handwerker, Dichter, Komponisten, Stückeschreiber, Musiker und redenschreibende Gelehrte monatelang mit den Vorbereitungen und der glanzvollen Durchführung des Festes beschäftigt. An die Theaterdarbietungen schlossen sich meist außerordentliche Festlichkeiten an, die sich oft über Tage hinzogen. Festtage, an denen das Volk Gelegenheit bekam, König und Königin und ihr Gefolge in aller Pracht zu sehen - und sei es auch nur auf dem Weg in den Park hinein und wieder heraus, zurück in das Schloss. Der Tod der Königin brachte dem Hof eine lange Trauerzeit, wobei es in Wahrheit eher das knappe Geld war, das auf die Stimmung drückte. Hinzu kam der Mangel an Friedensschlüssen, die man hätte zelebrieren können, und vielleicht auch die religiöse Schwärmerei, die einen dämpfenden Effekt auf das Hofleben hatte.
Die Tanzwut des Hofes ist nach der langen Lähmung kaum noch zu bändigen. Es brodelt geradezu unter dem Parkett des Schlosses. Als klares Zeichen für mehr Sinnesfreuden gelten die vielen kleinen Feste in den Hinterhöfen Madrids. Ich hasse sie, doch ich muss mich dort sehen lassen, will ich in Zukunft bei Hofe weiter aufrücken. Man weiß ja nie genau, wer noch eingeladen ist. Auf jeden Fall sollte die Zahl der Verbündeten die Anzahl der Neider im richtigen Augenblick übertreffen.
Nachrichten sind flüchtig und bedürfen der klugen Verwertung, der gezielten Verbreitung und der richtigen Darlegung. Bei den festlichen Anlässen wird der Vorrat des Herrschaftswissens enorm aufgestockt. Andererseits, sollte die neuerliche Vermählung des Königs in naher Zukunft tatsächlich stattfinden, dann werden die Tanzanlässe bald nicht mehr zu zählen sein, und die bei Hofe produzierten Neuigkeiten könnten gleichsam in Bibliotheken gehortet werden É
An mein Ohr dringen die Klänge von Waldhörnern, Flöten, Harfen und Lauten.

»Sieh mich an, Sebastián!«
Langsam dreht er den Kopf zu mir und blickt mich mit fragenden Augen an. »Diego, ich spüre, wie mir ein fremder Wille aufgezwungen wird. Alles, was ich sage, wird mir aufgezwungen. Ich spaziere aus mir heraus und wieder hinein É«
»Ich habe es bemerkt É Was wolltest du mir berichten?«, versuche ich den Moment seiner geistigen Klarheit zu nutzen, bevor er wieder zur Marionette seiner geistigen Verwirrung wird.
Er steht auf und kniet sich plötzlich neben mich. Seine schlechte Ausdünstung lässt mich zurückweichen. Ich rutsche langsam an das andere Ende der Bank, doch der Zwerg verkürzt auf Knien sofort die geschaffene Distanz. Ich höre auf zu atmen, als er spricht. »Du wirst beauftragt, unserem König beim Aufbau und der Anordnung einer gewaltigen Sammlung von Bildern und Figuren zu helfen, die in der bekannten Welt keinen Vergleich kennt.«
Ich wende meine Nase ab und spreche abgewandt zu ihm. »Will unser Herrscher noch mehr Gemälde kaufen?«
Sein Gesicht rückt derart nahe, dass ich meine, seine Lippen berühren mein rechtes Ohr. »Mehr? Ich hörte aus berufenem Munde, dass auf ausdrücklichen Wunsch unseres Herrschers du nach Italien reisen wirst, um offiziell dort alles anzukaufen, was den Bilderwänden und Kabinetten des Alcázar zu größerem Ruhm und noch strahlenderem Glanz verhilft.«
Seine physische Nähe ist mir unerträglich, doch meine Neugier ist stärker als mein Widerwille. »Wie wird mein Auftrag lauten?«
»Die neuen Säle des Königs sind mit Skulpturen und Gemälden zum Staunen der Welt zu machen!«
Obwohl ich schon Gewissheit gewinne, was das für mich bedeutet, stelle ich dem Zwerg die Frage: »Und wo genau soll ich diese Kunstwerke ausfindig machen?«
»Deine Reise wird dich vielleicht nach Venedig, Florenz, Rom und vielleicht auch nach Neapel führen É«
»Du sagtest vorhin offiziell - gibt es auch etwas Inoffizielles?«
»Es gibt immer private Angelegenheiten. Deine eigenen und die der anderen É«
»Kannst du etwas Genaueres darüber sagen?«
»Du wirst mit dem Herzog von Nájera reisen, der den Auftrag hat, Mariana von Österreich, die Braut des Königs, in Italien in Empfang zu nehmen.«
»Wann ist es so weit?«
»Die Eskorte wird sich spätestens Ende November auf Befehl des Königs auf den Weg nach Italien machen.«
»Wer wird mich unterstützen?«
»In Italien wird dich der Marqués de la Fuente unterstützen. Die genaueren Instruktionen wirst du bald vom Hof direkt erhalten.«
»Wer weiß schon etwas von der geplanten Mission?«
»Der Palast hat viele Augen und noch mehr Ohren É«
»Was haben deine Ohren noch gehört, was ich wissen sollte?«
Sebastián zieht mit seiner kleinen Hand an meinen Haaren, um mir in mein Ohr zu flüstern. Ich bin kurz davor aufzuspringen. »Die Stühle werden gerückt!«
»Wie viele?«, keuche ich, da ich es kaum noch ertrage.
»Sieben auf einen Streich!«
»Sieben?«
»Ja. Nummer fünfundvierzig É Ha! Ha! Ha É!«, brüllt er, sodass mir das Ohr schmerzt. Ich reiße mich los, um der unerträglichen Nähe zu entkommen. Während ich meine Haare ordne, lacht Sebastián immer noch. »Du darfst dem König bald die Serviette reichen!«
»Nur ganze sieben Stühle?«
»Das ist einmalig, Diego. Vielleicht gelingt es dir, noch einige zu überspringen, wenn du geschickt bist.«
»Was willst du damit sagen?«
»Es wird noch Wünsche geben, die du erfüllen oder auch nicht erfüllen wirst. Ha! Ha! Ha! Vier Stühle oder fünf É wer weiß das schon É Stiehl dir sie einfach É Ich schenk dir drei weitere von mir, wenn du mich malst. Male mich, bevor ich nicht mehr bin É«
An seinen Äußerungen bemerke ich, dass ihn wieder seine unerklärliche Angst zu quälen beginnt.
»Ich zerfalle zu Staub!«, brüllt er in höchster Panik, springt von der Bank, wälzt sich im Sand, als würde er mit einem Untier kämpfen. Plötzlich steht er wieder auf seinen kurzen Beinen, blickt mich panisch an und flüchtet über ein Blumenbeet einer dichten Hecke entgegen, in der er schlagartig meinen Augen entschwunden ist É

III Livia und Angelo
Venedig - Mailand
1964

Venedig, Mai 1964

Die elegante Wohnung der Signora Livia Romano befand sich in der Corfù Gambara im sestieri Dorsoduro von Venedig, nahe der Ponte Accademia. Der Bezirk Dorsoduro wird auch als der »Harte Rücken« Venedigs bezeichnet, worin Livia zunächst ein gutes Zeichen für das stabile Fundament ihrer Ehe gesehen hatte. Indessen geriet ihr dieser Name zum schlechten Omen, da es schien, als sollte ihr immer öfter der Rücken und dazu auch noch ihr Stolz gebeugt werden É
Vor gut sechs Jahren, als sie mit ihrem Mann nach ihrer Hochzeit von Salerno nach Venedig gezogen war, glaubte sie noch an ihr Glück, gleich der Bronzefigur Fortuna auf der Punta del Dogana, die auf der Inselspitze, nahe der Salute, das Segel des Glücksfalls in den Himmel streckt. Livia hatte sich von dem äußerst solide erscheinenden, dafür dreißig Jahre älteren Angelo gern umgarnen lassen. Ihr gefiel es zunächst, dass er sie nicht, wie einige jüngere Männer zuvor, mit eitlen Erfolgsgeschichten aus seinem Berufsleben konfrontierte, sondern sie in Gespräche über Oper und Literatur verwickelte und überaus anregend über Italiens Kulturdenkmäler und große Künstler zu plaudern wusste. Gleichaltrige Männer schreckten sie ab, da sie oft Details vergangener Affären zum Besten gaben. Angelo dagegen war ein Gentleman vom Scheitel bis zur Sohle, und charmant war er obendrein. Wie er sein Geld verdiente, als Finanzberater großer norditalienischer Modefirmen, war eigentlich nie ein Gesprächsthema zwischen ihnen; dass er in seinem Beruf erfolgreich war, belegte sein voller Terminkalender zur Genüge. Kurz und gut, Livia war überzeugt davon, den rechten Mann fürs Leben gefunden zu haben.
Ihre Flitterwochen glichen der heiteren Tiepolo-Decke in der Gesuati-Kirche am Zattere-Kai, an der pantomimische Engel schweben. Obendrein gelang es ihrem Mann, seinen wahren Alltag in den ersten Monaten ihrer jungen Ehe derart zu tarnen, als hätte er ihn mit den fröhlichen Farben Tiepolos übermalt. Doch es kam, wie es kommen musste: Die Illusion des farbenfrohen Bildes wurde eines Tages durch eine eher düstere Realität ersetzt É
Der Frühling 1964 brachte eine ungewöhnlich warme Witterungslage, sodass Livia an einem Apriltag erst spätnachmittags die Jalousien der hohen Bogenfenster öffnete, um der Sonne Zutritt in Schlafzimmer und Salon zu gewähren. Sie war allein an jenem Tag, da Angelo Geschäfte in Mailand abzuwickeln hatte. Sie blickte hinunter auf den Rio di San Trovaso, der nach wenigen Metern zusammen mit dem Rio della Toletta in den Canale Grande mündet. Vom kleinen Balkon des Schlafzimmers im zweiten Stock aus beobachtete Livia zahllose Motorboote, die zielstrebig das grünlich gefärbte Wasser schnitten.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 03.01.2005