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Nur nicht mehr »verzetteln«

Fußball-Trainer Ewald Lienen: Hannover soll eine Langzeit-Station werden

Von Klaus Lükewille
Hannover (WB). 0:1 gegen Arminia Bielefeld. Damals, am 28. September, wackelte der Stuhl von Ewald Lienen ganz bedenklich. 0:1 gegen Hertha BSC Berlin. Inzwischen, nach dem verspielten Vorrunden-Finale am 11. Dezember, ist der Trainer beim Fußball-Bundesligisten Hannover 96 ein gefragter Mann. Sein Vertrag wurde vorzeitig bis 2007 verlängert.

Die gleichen Ergebnisse, zwei völlig verschiedene Bewertungen. Denn zwischen dem einen 0:1 und dem anderen 0:1 ist bei den Niedersachsen viel passiert. Aus dem blassen Schlusslicht wurde eine strahlende Überraschungsmannschaft, die sich nach 16 Runden sogar schon bis auf Platz vier vorgearbeitet hatte.
Vor dem Duell gegen Hertha BSC servierte die »Hannoversche Neue Presse« ihren Lesern eine Foto-Montage. Der Trainer als Weihnachtsmann. Darüber die dicke Überschrift: Was hat der Lienen heute im Paket? Leider keine Punkte, denn die Berliner nahmen den »Dreier« mit.
Aber an der Leine sind trotzdem alle Leinen los. Das bisherige Abschneiden der 96er begeistert alle, das Präsidium und die Fans. 28 Punkte. Tabellenplatz sieben. Beachtlich, sehr beachtlich.
Aber Lienen mimt den Mahner und Warner: »Wenn wir kein Spiel mehr gewinnen, dann steigen wir ab.« Doch daran denkt in Hannover längst niemand mehr. Aus dem Kellerkind ist eine Mannschaft geworden, die internationale Plätze im Auge hat. Ein Fan hielt bei der Partie gegen Hertha sogar schon die Meisterschale hoch.
Der Trainer hatte das auch gesehen, schmunzelte und stellte fest: »Die Leute dürfen träumen.« Der ehemalige Angreifer, der 1975 beim DSC Arminia Bielefeld zu seiner stürmischen Bundesliga-Karriere startete, er ist kein Traumtänzer. Lienen, der Realist. Er schätzt die Liga-Lage seiner 96er so ein: »Ich denke nur von Spiel zu Spiel. Sicher, wir haben eine gute Vorrunde hingelegt, aber wir haben noch nichts erreicht. Gar nichts. Wir müssen versuchen, das Niveau zu halten und nach Möglichkeit weiter steigern.«
Der 51-Jährige weiß aus eigener Erfahrung, wie schnell es nach einem guten Start wieder abwärts gehen kann. Das war mit und unter Lienen immer so. Wenn er kam, feierten die Mannschaften zunächst ganz große Erfolge. Anschließend rutschten sie alle in die Krise - und der Fußball-Lehrer musste gehen.
Stets das gleiche Muster. In Duisburg und Rostock. In Köln und Mönchengladbach. Zuerst gefeiert, dann »gefeuert«. Das Vertragsende hat der Chef-Trainer Lienen bisher bei keinem Verein erleben dürfen. Aber das soll jetzt anders werden. In Hannover. Bei den »Roten«. Die Vereinsfarbe müsste auf jeden Fall zur politischen Einstellung passen: Lienen galt schon immer als ein »Linker«.
Was den Fußball-Lehrer aber nie daran hinderte, eigene Wege zu gehen, die auch mal nach rechts führen konnten. Lienen und seine Linie: Die verfolgte er stur, kompromisslos, pedantisch, eigensinnig, rechthaberisch und war ganz schnell beleidigt, wenn die Kritik mal etwas lauter wurde.
Wie im September in Hannover, als der 96-Coach in einer TV-Sendung als Medien-Muffel bloß gestellt werden sollte. Darüber hat er sich fürchterlich aufgeregt - und anschließend überlegt. So ging das nicht mehr weiter. So nicht. Hier soll er auch vom 96-Präsidenten Martin Kind beraten worden sein: Er möge bitteschön sein Auftreten überprüfen. Schnellstens.
Das waren die Tage, in denen Lienens Stuhl wackelte. Aber danach ging es in der Tabelle steil aufwärts. Und der erfolgreiche Trainer präsentierte sich plötzlich im ZDF-Sportstudio wie ein Entertainer, gab dem Fachblatt »Kicker« flockige Interviews, schreibt inzwischen auch Autogramme, die er früher stets verweigerte.
Ein »Anpasser« will Lienen aber auf keinen Fall sein. Nein, er doch nicht. Da kann er nur lachen. Denn so sieht er sich selbst: »Ich habe mich geändert, ohne mich zu verändern.« Im neuen Lienen steckt immer noch der alte Lienen.
Wie er zum Beispiel während der 90 Minuten keine Sekunde sitzt, hektisch und gestikulierend durch die Coaching-Zone tigert, das war schon immer so. Und selbstverständlich wird weiter alles notiert. Ein Spitzname für die Ewigkeit: »Zettel-Ewald«.
Aber verzetteln will sich Lienen nicht mehr. Deshalb arbeitet er jetzt in Hannover so konzentriert wie noch nie. Weiter hart, trotzdem lockerer. Weiter akribisch, dennoch entspannter. Und damit es für ihn bei den 96ern am Ende nicht wieder mal zu spät ist, fängt er auch ganz früh an. Bereits heute bittet Lienen seine Profis um 14.30 Uhr zur ersten Übungsstunde.

Artikel vom 28.12.2004