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Kurzum, mein Gefühl sagt mir, ich werde vielleicht teilnehmen an einem zweiten Wunder, einem Wunder, das trotz flauer Kassen die Pracht des spanischen Hofes wieder beleben wird. Ich werde es zu meinem Vorteil zu nutzen wissen É
Erneut blähte die frische Luft meine Lungen und ließ mich in die Sonne blinzeln. Ich war dabei, mich zu verlieren, statt mich um die sich abzeichnende Umgestaltung der königlichen Paläste zu kümmern.
So betrete ich pflichtgetreu den Salón Grande - oder den »Saal der Reiche«, wie viele ausländische Gesandte ihn nennen - des Buen Retiro, um mir die dort aufgeschichteten Pläne und Pergamentstapel vorzunehmen. Mein König verlangt, ein neues Arrangement für die Gemälde und Figuren der königlichen Schlösser zu entwerfen. Der Stolz auf die hier hängende Bilderpracht, an der ich mitgewirkt habe, erfüllt mich immer wieder aufs Neue. Im Licht von zehn hellen Fenstern leuchten die Gemälde von den über acht Meter hohen Wänden. Im Grunde ist er ein einfacher rechteckiger Raum, der über dreißig Meter in der Länge und zehn Meter in der Breite misst. Die Decke ist mit feinen goldenen Grotesken verziert, während die Wappen im Gewölbe die vierundzwanzig Reiche meines Herrschers ins Gedächtnis rufen.
Die schweren Tische, an denen sonst unentwegt getafelt, verhandelt, gespielt oder gestritten wird, sind für den Moment mit Büchern und Mappen belegt und von leeren Stühlen und Sesseln unterschiedlicher Höhe umzingelt. Mein Blick schweift hinüber zur südlichen Stirnseite. Plötzlich sehe ich eine unerwartete Bewegung auf einem der Sessel. Ich umfasse meinen vergoldeten Pinsel, den ich ständig bei mir trage, wie einen Dolch. Wer kann das sein? Ich sehe nur einen äußerst kleinen Kopf. Den Rest verdeckt die Tischkante. Ein bärtiges, verschwommenes Gesicht, umrahmt von wallendem Haupthaar, geschnitten wie das eines Pagen. Es muss einer der Hofzwerge sein, schießt es mir durch den Kopf.
Ich gehe einige Schritte näher heran und prüfe dabei durch schräges Hinaufblicken zu meinem eigenen Schlachtengemälde, ob die Leinwand noch gleichmäßig gespannt und der Firnis nirgendwo blind ist. Hier bin ich beruhigt; es besteht kein Anlass zur Sorge wie wohl bei einigen der anderen Oberflächen.
Ein weiterer Blick zur Tischkante bestätigt meine Vermutung. Es ist ein Hofzwerg. Wer von den gut vierzig am Hofe mag es sein? Ich beachte ihn erst nicht weiter, sondern konzentriere mich wieder auf die über mir hängenden Gemälde. Dabei versuche ich, aus dem Augenwinkel heraus die kleinwüchsige Gestalt im Blick zu halten É
Zwerge, Narren und Könige sind mächtig. Sie gehören am Hofe zusammen, wie die Brennpunkte einer Ellipse. Zwerge und Narren sind Gegenfiguren zum Herrscher; was bedeutet, dass er der Gnade Gottes teilhaftig geworden ist, die ihn vollkommen macht, während die lebendige Hässlichkeit der warnenden Stimme Gottes ihr Recht am Hofe verschafft. Das Warnende hat der Regent nicht nur gelegentlich, sondern stets vor Augen zu haben. Deswegen haben unsere Zwerge erstaunliche Rechte. Sie stehen außerhalb der strengen Etikette und haben zu fast allen königlichen Räumlichkeiten Zutritt.
Ich selbst habe nur drei Freunde unter dem Rudel der Zwerge. Der Rest mag mich nicht besonders. Dagegen genieße ich bei den Hofnarren, die der Wahrheit bei jeder sich bietenden Gelegenheit Gehör verschaffen, Respekt und Ansehen. Vielleicht liegt es daran, dass diese mein Talent besonders zu schätzen wissen. Immerhin habe ich einige von ihnen im Auftrag des Königs porträtiert und damit ein so lebhaftes Interesse bei ihnen erweckt wie bei wenigen anderen Menschen. Sie sind aufgeregt vor ihrem Konterfei auf- und abgegangen und haben Spiegel herbeigeschleppt, um sich und ihr gemaltes Ebenbild wiederum im Spiegelglas zu überprüfen. Sie fanden meine Gesichtswiedergabe ähnlicher als die der Bildnisse für den alten Komödiensaal, die mein Sevillaner Freund Cano kurz vor seiner Flucht gefertigt hatte. Auf Befehl des Königs mussten sie damals für eine Galerie der gotischen Könige Modell sitzen. Dort können sie sich jetzt nur unter fremden Namen und in altertümlicher Kleidung wiederfinden.
Auch bei den Zwergen und Zwerginnen versuche ich Zuneigung mittels meiner Kunst zu gewinnen, was mir allerdings nur bei einigen wenigen gelang. Einer von ihnen ist mir ohne Frage gutgesinnt. Er dient mir auch als Informant. Zwerge bei Hofe hören viel und reden wenig. Besonders wenig gegenüber den »Riesen«.
Ein Blick genügt: Das Symbol der grundsätzlichen Verderbtheit der Menschen sitzt immer noch reglos. Seine ständige Gegenwart in diesem Raum nagt an meiner Konzentration. Wieder einige Schritte näher, erblicke ich seine sonderbare, eigenwillige und auffällige Kleidung, die der des Königs gleicht. Sie verstärkt in mir das Gefühl, absichtlich herausgefordert zu werden. Nach einem kurzen abwartenden Moment verkürze ich wieder die Distanz, ohne ihn aus den Augen zu lassen.
»Himmel noch mal!«, entfährt es mir. »Sebastián! Warum sagst du nichts?«

»Gut, ich werde dein Gesicht malen. Doch zuerst bringe ich dich zu David Naschér«, entgegne ich gelassen. »Ich erledige nur noch meine Arbeiten hier.«
Sebastián wendet sich ab und stapft mit seltsam ruckartigen Schritten in die östliche Ecke des Saales. Dort setzt er sich auf den Boden. Er wirkt in diesem Moment gleichgültig und abgestumpft, für meine Ansprache unerreichbar.
Ich lasse mich davon nicht weiter beeindrucken, sondern gehe meine Listen der Gemäldebestände des Buen-Retiro-Palastes, des Alcázar und der königlichen Häuser in und außerhalb Madrids durch. Ich soll sie nach einer neuen Philosophie ordnen, die Darstellung der Tugenden und des Heldenruhms hervorheben. Eine endlos zeitfressende Arbeit, die mir da bevorsteht. Zum Malen fehlt mir jegliche Zeit. Gerade in den letzten Jahren verbrachte ich den Großteil meiner Zeit außerhalb Madrids. Als Teil der königlichen Equipe reiste ich für Monate nach Valladolid und nach Aragon. Überall wo Krieg geführt wurde, war mein König im Feld und ich als Ayuda de Cámera in seiner Nähe. Hinzu kamen Reisen nach Valencia und Zaragoza. Verschiedene königliche Porträts malte ich unter Eiseskälte und im Halbdunkel während dieser Reisen, zwischen Schlachten und Ruhezeiten.
Es ist verrückt, doch je besser ich male, desto zeitraubendere Ämter bekomme ich verliehen. Aber wenn ich mein Ziel, in den Adelsstand aufgenommen zu werden, erreichen will, bleibt mir kaum eine andere Wahl, als für meinen König Tag und Nacht verfügbar zu sein. Majestät beansprucht mich im Moment vorrangig für die Ausstattung seiner königlichen Paläste. Die Gestaltung und die Ausschmückung neuer Raumfolgen im Alcázar und im Escorial stehen ganz oben in der Liste der zu erledigenden Arbeiten. Irgendetwas hat sich bei Hofe in den letzten Wochen geändert. Ich spüre täglich diese nur mühsam verborgene Aufregung aller Hofschranzen, die pausenlos um unseren Herrscher herumscharwenzeln. Die Gründe für die Geschäftigkeit und warum alles unter erheblichem Zeitdruck geschieht, das blieb mir bis heute allerdings verborgen É
Gerade als ich meinen Namenszug mit dem Federkiel auf das Pergament kratze, öffnet sich langsam quietschend die kleine Flügeltür hinter meinem Rücken.
»Don Diego, habt Ihr Sebastián gesehen?«, dringt eine fiepsige Stimme an mein Ohr.
Ich drehe mich um und sehe die unförmige Maribárbola in der Tür stehen. Die mächtige deutsche Hofzwergin, ein Geschöpf, dessen Hässlichkeit die Vorstellung der Hölle bei Hofe fördert, rollt auf mich zu. Sie steht in der Rangordnung der Zwergenzunft bei Hofe auf den obersten Stufen. Mit ihrer grotesken Missgestalt lässt sich die obsiegende Herrlichkeit unseres Königs sinnträchtig im wahrsten Sinne des Wortes beweisen.
Ich deute auf die Ecke. »Er sitzt dort und starrt vor sich hin. Er spricht seltsam und erzählt von absonderlichen Dingen. Weißt du, was ihm fehlt?«
»Nichts Genaues. Doch ich suche ihn deshalb. Médico Naschér will ihn sehen.«
»Du kommst mir zuvor. Ich hatte vor, ihn selbst zu Naschér zu bringen.«
»Nicht nötig. Er behandelt ihn schon.«
»Was ist mit ihm?«, frage ich noch einmal eindringlich.
»Nocturnam faceo, Albträume, und obscou, Dunkelheit, überfallen ihn immer häufiger. Sein Kopf ist manchmal schwach. Médico Naschér sagt, die vernünftigen Werkzeuge in seiner Seele haben sich verändert. Die guten Lebensgeister, die von seinem Herzen sonst aufsteigen, erschweren unerwartet die Tätigkeit seines Kopfes und seiner Seele É«
»Ein seltsames Leiden É«
»Verschwinde!«, brüllt Sebastián mit rotem Kopf, sodass auch mir für einen Moment der Atem stockt, während Maribárbola wütend aus dem Saal rennt.
»So, nun bin ich sie endlich los«, triumphiert der Zwerg, als hätte er ein wildes Tier vertrieben.
Maribárbolas heftiger Ausruf allerdings sagt mir, dass mein Freund wichtige Nachrichten für mich besitzt. »Was meintest du vorhin?«, versuche ich ihn ohne Umschweife auszuhorchen.
»Erst wenn du mir versprichst, das Bild sofort zu malen.«
»Ich verspreche es! Komm morgen in mein Atelier«, willige ich ein. »Nun, warum bleibt mir nicht mehr viel Zeit?«
»Ein Mann der eine É höfisch É königlich! Ein Weib die andre É kindlich noch É mit Lippen, die Gott Amor selber machte!«
»Was soll das heißen? Sag es ohne Firlefanz!«
»Unser König wird sich wieder vermählen. Habsburg mit Habsburg - wie schon so oft É« (wird fortgesetzt)

Artikel vom 30.12.2004