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Deutsche fassen Mut zu Reformen

Wunsch: Lasten gerechter verteilen

Von Bernhard Hertlein
Bielefeld (WB). Die Deutschen sind am Weihnachtsfest 2004 vom Grundsatz her bereit, Reformen mitzutragen, die auch ihnen etwas abverlangen. Sie scheuen sich jedoch, den Gürtel enger zu schnallen, so lange andere offenbar ungerechtfertigt weiter auf großem Fuß leben, sagt Klaus Schöppner vom Bielefelder Meinungsforschungsinstitut TNS Emnid.

Schöppner zufolge war das Gefühl, dass es in dieser Gesellschaft nicht gerecht zugeht, niemals so groß wie nach sechs Jahren rot-grüner Koalitionsregierung in Berlin. Als Beispiel nannte der Experte am Donnerstag im Gespräch mit dem WESTFALEN-BLATT die Verlängerung der Lebensarbeitszeit. Mehr als zwei Drittel der Deutschen seien grundsätzlich bereit, bis zum 67. Lebensjahr im Berufsleben zu stehen.
Dem stehe aber die Erfahrung entgegen, dass kaum jemand überhaupt bis zum 65. Geburtstag arbeitet. »Und wenn dann noch in der eigenen Nachbarschaft ein 55-jähriger Lehrer oder der gleichaltrige Vorruheständler eines Großbetriebs bereits ihre Pensionen oder Renten in fast voller Höhe genießen, löst sich die Bereitschaft, die Lebensarbeitszeit zu verlängern, endgültig in nichts auf«, erklärte Schöppner.
Nach jüngsten Emnid-Umfragen, die nicht vollständig ausgewertet und deshalb, so Schöppner, auch noch nicht veröffentlicht sind, hat der Pessimismus in Deutschland 2004 weiter um sich gegriffen. 84 Prozent sind über die wirtschaftlichen und politischen Zustände beunruhigt -Êmehr als je zuvor und mehr als in jedem anderen Industrieland einschließlich Japan und Russland. »Normal« ist Schöppner zufolge, wenn sich 30 bis 40 Prozent einer Bevölkerung verunsichert fühlen.
Während die »Agenda 2010« noch vor einem Jahr manchen Anlass zu Hoffnung war, zieht »Hartz IV« heute viel mehr Leute nach unten. Nach Angaben des Emnid-Geschäftsführers glaubt die Mehrheit, dass sich die wirtschaftliche Lage 2005 leicht verbessern wird. Gleichzeitig geht die Mehrzahl dieser Menschen aber davon aus, dass die Arbeitslosenzahl trotzdem weiterhin steigen steigen wird.
Bis in die neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts hinein verbanden drei von vier Einwohnern Deutschlands mit dem Begriff »Reform« eine Veränderung zum Positiven. Danach änderte sich im gleichen Verhältnis die Einstellung. Schöppner zufolge bedeutet »Reform«Ê seitdem: Jemand -Êder Staat? -Êmöchte mir in die private Tasche greifen.
In diesem Jahr habe sich die Meinung erneut geändert. Zwar gehe weiter die Mehrheit der Deutschen davon aus, dass sie nach einer Reform schlechter gestellt sei als davor. Die meisten Deutschen seien nun aber bereit, Einschränkungen hin zu nehmen -Êfreilich nur unter der Voraussetzung, dass die Lasten sozial gerecht verteilt würden. Genau daran aber scheitere die Politik: »Sie vergrößert noch das Gefühl mangelnder Gerechtigkeit.«

Artikel vom 24.12.2004