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Es ging É«, erwiderte Angelo.
Livia hängte seinen Mantel auf den Bügel. »Einen Drink, Liebster?«
»Gute Idee É«
Für einen Moment standen sie sich im engen Flur gegenüber. Angelo strich seiner jungen Frau übers Haar, zog sie behutsam an sich und berührte zärtlich ihre Lippen. Livia schmiegte sich an ihn. Sie mochte es, wenn er sie leicht an sich presste und sie seinen Atem an der Wange spürte. Er wiederum genoss es, Livias verlängerten Rücken, quasi als Teil der Begrüßung, spielerisch mit wippenden Fingerspitzen zu tasten. Als er sie wieder freigab, blickte er, wie so oft, wenn er einige Tage außer Haus gewesen war, prüfend in ihre Augen. Daraufhin spielten sie den inzwischen zum Ritual gewordenen Dialog wie auf einer Bühne.
»Was blickst du mir so tief in die Augen, mein Favorit?«, gurrte sie.
»Der Schatz muss behütet werden. Unantastbar für jedermann! Kein einziger Edelstein darf verloren gehen É!«, gab er zurück.
Livia stellte sich in Positur: »Nun? Wirke ich angetastet? Fehlt etwas?«
Angelo sah bewundernd an ihr herab. »Alles da, mein Engelchen. Nichts fehlt!«
Sein Blick strahlte. Er schien sich wieder gefangen zu haben. Zumindest war ihm nichts mehr anzumerken.
Sich in den Hüften wiegend, schritt Livia voran in den Salon. »Scotch?«
»Ja, bitte.«
»Mach dirÕs bequem, Liebster!«
Angelo bewegte sich stattdessen zur Schlafzimmertür. »Bin gleich wieder da. Ich mach mich schnell ein wenig frisch.«
»In Ordnung. Tu das!«, erwiderte Livia zustimmend, während sie nach dem Juwel der Hausbar griff. Sie wählte das Teuerste und Beste. Einen Single Malt von Michel Couvreur, Meldrum House, Aberdeenshire. Unbemerkt beobachtete Livia für einen Augenblick ihren Mann im Barspiegel. Jegliche Regung war plötzlich aus seinem Gesicht gewichen. Sein strahlender Blick schien erloschen. Für einen Moment hatte sie den Eindruck, ein Fremder befände sich im Raum.
Angelo ging nochmals in die Mitte des Salons, warf einen kurzen besorgten Blick zur Balkontür hinaus und senkte daraufhin mit starrer Miene den Kopf. Bevor er zur gegenüber liegenden Tür schritt, blieb er für wenige Augenblicke abermals reglos stehen.
Livia reagierte nicht. Ihr mühsam aufgesetztes Lächeln geriet zur Maske. Mechanisch ließ sie das bernsteinfarbene Destillat in ein tulpenförmiges Glas fließen. »Einundzwanzig Jahre im Eichenfass É«, murmelte sie und rechnete nach. Flüchtige Bilder der Vergangenheit tauchten vor ihren Augen auf. Es waren die Platanen vor der Mädchenschule in Salerno. Die Blätter warfen ihre Schatten wie gespreizte Hände auf das heiße Pflaster. Ein Mädchen saß auf der beschatteten Bank. Ihr war, als beobachtete sie sich selbst É
Sie hatte Angelo auf einer kleinen Versteigerung in Neapel kennen gelernt, die den Namen »Auktion« im Grunde gar nicht verdiente. Auf ihren allmonatlichen Streifzügen durch das Viertel der Kunsthandwerksgeschäfte, Goldschmiede- und Antiquitätenhändler der lebhaften Via San Biagio dei Librai hatte sie sich gegen Mittag zur roten Fassade des Konvents SantÕ Antoniello a PortÕ Alba an der Piazza Bellini bringen lassen. Der Grund war ein Plakat bei Luigi Grassi, dem Puppendoktor von Neapel, gewesen. Livia hatte es an der Eingangstür zu seinem berühmten Ospedale delle Bambole entdeckt. Dort wurde auf eine Auktion von Puppen hingewiesen. Doch keine der angebotenen Puppen weckte ihr Interesse, dafür verliebte sie sich urplötzlich in eine italienische Komödienfigur aus Porzellan, die mitten im Raum in einer hohen Vitrine stand. Livia schwärmte für filigrane Kleinplastiken, insbesondere, wenn sie anmutige Bewegungen zeigten.
Die Figur ihrer Wahl stellte offensichtlich den Octavio aus der Commedia dellÕArte dar, der immer den schmachtenden Liebhaber spielte. Die angebotene, sehr zartgliedrige Plastik wurde als ein noch zeitgenössisch bemalter Porzellanguss nach dem Modell von Franz Anton Bustelli, dem genialen Meister der Nymphenburger Figurenserien des 18. Jahrhunderts, vorgestellt É
Das erste Angebot lag bei dreihunderttausend Lire. Sie und noch zwei interessierte Bieter steigerten mit. Bei Fünfhunderttausend stieg sie aus, wogegen ein gepflegter, gut aussehender Herr, der seit Beginn offenbar direkt hinter ihrem Rücken seinen Standplatz gewählt hatte, bei neunhunderttausend Lire den Zuschlag bekam.
Sie wollte gerade das Areal des Konvents verlassen, als ihr der Fremde wortlos die gerade ersteigerte Figur, umhüllt von zerknittertem, unansehnlichem Packpapier, entgegenstreckte.
»Sie ist ein echter Bustelli. Octavio gehört Ihnen.«
Fassungslos sah Livia in ein charmant lächelndes Gesicht. »Wirklich? Das É das kann ich nicht annehmen É!«
»Sie mögen Octavio nicht? Schade É«
»Doch É schon É«, stammelte sie völlig irritiert.
»Kommen Sie.« Er entfernte das Packpapier, nahm behutsam Livias Hand und legte ihr die Figur hinein. Er tat es so, als ob er sie in eine Wiege legen würde. Während Livia sprachlos die Kostbarkeit in ihrer Hand hielt, deutete der Unbekannte auf eines der zahlreichen Cafés an der Piazza. »Suchen wir uns dort drüben einen schönen Platz É«
Das Bild, wie Angelo sie damals entschlossen bei der Hand nahm und quer über die Piazza führte, war in den Tagen, Wochen und wenigen Jahren ihrer Ehe zum Symbol geworden. Ihre Vorstellung, sicher geführt zu werden, seine Großzügigkeit und Weltläufigkeit ließen keine andere Betrachtungsweise zu und verdrängten jegliche Angst, dass irgendetwas in ihrer Beziehung schief laufen könnte.
Sie genoss es, in Angelo einen ganz außerordentlichen Mann gefunden zu haben, mit dem sie sich wahrhaftig über alles verständigen konnte. Er hörte nicht nur geduldig zu, wenn sie sprach, nein, er konzentrierte sich darauf, was sie sagte und wie sie sich ausdrückte. Niemand hatte ihr jemals so zugehört. Es zeigte sich, dass er auch Kleinigkeiten begriff, die ihr wichtig erschienen, und mitunter ihre Gedanken von der Stirn ablas. Gerade dieses tiefe Verständnis war es, was sie die Differenz von knapp dreißig Jahren, die zwischen ihnen bestand, als unwichtig empfinden ließ. Bei Angelo war sie sich sicher, dass er sie intuitiv verstand und ohne jedes Vorurteil aufnahm, was sie äußerte. Doch das war, bei Gott, nicht alles, was sie an Angelo fesselte É
Livia atmete in jenem Augenblick tief durch. Die Jugend verrinnt gnadenlos, schoss es ihr durch den Kopf. Sie sah hinüber zur Schlafzimmertür. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Trotz Angelos Alter von knapp sechzig Jahren zog seine vornehme, sportliche Erscheinung sie magisch an. Sein Haar war noch voll und nur an den Schläfen silbrig glänzend. Sie liebte seine drahtige Figur ebenso wie sein kantiges Gesicht. Nichts an ihm war gebläht wie bei manch älteren Herren und nichts an ihm verriet seine lukullischen Neigungen. Zudem gründete sein beachtlicher Charme darin, dass er viele seiner Schwächen unverhohlen preisgab. Angelos Devise war, auf baraka zu setzen. Schon bei ihrer ersten Begegnung fesselte er sie mit diesem Wort. Baraka war das arabische Wort für unverdientes Glück É
»Ein Mann mit baraka wird«, philosophierte Angelo gern, »sofern er Courage hat, das Schicksal immer weiter herausfordern, um zu ergründen, wie weit es ihn trägt É« Und in Livias Augen hatte Angelo Courage. Vielleicht sogar etwas zu viel davon.
Sie nahm das Glas, platzierte es auf einen kleinen Glastisch direkt vor der Balkontür und zog zwei bequeme Sessel heran. Sie trat auf den Balkon hinaus. Verklärt sah sie hinunter auf den Canale Grande und ließ ihren Blick über die wetterbraunen, dicht gedrängten Fassaden der Paläste nach Norden schweifen.
»Er hat sein Wort immer gehalten«, murmelte sie vor sich hin. Es war, als machte sie sich Mut. Sie erinnerte sich an den Tag, als Angelo ihr eröffnete, dass sie, nach ihrer Heirat, ihren Wohnsitz in Venedig nehmen würden. Als sie vor zwei Jahren an gleicher Stelle den ersten Blick über Venedig genoss, wurde ihre Seele wie von einem zarten Saitenspiel bewegt. Die schönsten Momente ihres Daseins erlebte sie in jenen ersten Nächten. Hand in Hand und Auge in Auge ließen sie sich, von einer Gondel getragen, durch die Kanäle gleiten. Sie nahmen ausnahmslos eine Gondel mit Felze, um sich nicht den neugierigen Blicken der Gondolieri auszuliefern. Das frevle Spiel der Augen, die junge, helle Brust, im Mondlicht freigiebig und unbefangen entblößt, die trunkene Lust, die tausend wechselnden Gefühle waren nur für sie und Angelo auserkoren, während alle Gondeln Venedigs ihrem flüsternden Geheimnis folgten. Taubenetzt schlichen sie oft erst im Morgengrauen den eigenen vier Wänden entgegen, und mit stürmisch wogendem Herzen hoffte Livia, dass die wohlvertraute Weise der Barkarole nie verstummen möge É
Angelo betrat wieder den Salon. Er war sorgfältig gekleidet, trotz der bequemen Sachen, die er trug. Er fingerte kurz an der Türklinke, da der Schnapper nicht recht schließen wollte. Nachdem die Tür endlich schloss, steuerte er auf den freien Sessel zu, ließ sich fallen und griff sich das Whiskyglas. Er hielt es gegen das Licht und schnüffelte anschließend über dem tulpenförmigen Rand. »O ja, den habe ich mir verdient!«
»Salute!«, reagierte Livia.
»LÕuomo senza whisky lÕè un poverino!«, erwiderte Angelo. Ein Mann ohne Whisky ist ein verlorener Mann.
»Wie war es in Mailand?«, versuchte Livia das Gespräch in die gewünschte Richtung zu lenken. Dabei fixierte sie ihren Mann. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 05.01.2005