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»Sprengkraft des Musiktheaters ist groß«

Joel Revelle verstärkt von der kommenden Spielzeit an die Führungsriege an den Städtischen Bühnen

Bielefeld (WB). Joel Revelle gehörte zu den Bewerbern, die bei der Neubesetzung der Intendanz am Theater Bielefeld in die engere Wahl kamen. Nun wird der 39-Jährige, der seit zwei Jahren als Künstlerischer Betriebs- und Operndirektor am Theater Gießen verantwortlich zeichnet, in gleicher Funktion ans hiesige Theater wechseln. Revelle ist mit der Schauspielerin Isabell Hindersin verheiratet und hat einen siebenjährigen Sohn. Mit ihm sprach Uta Jostwerner.
Was hat Sie bewogen, das Bielefelder Angebot anzunehmen?
Joel Revelle: Da gibt es zunächst die bemerkenswerte Tradition des Hauses mit der Ära Dew und dann hat mich auch die künstlerische Qualität überzeugt, von der ich mich bei zahlreichen Besuchen immer wieder überzeugen konnte.

Welche Inszenierung haben Sie zuletzt am Theater Bielefeld gesehen?
Joel Revelle: Das waren die Meistersinger. Ich fand die Oper als Gesamtprojekt sehr gelungen, nicht zuletzt weil es für ein Haus dieser Größenordnung doch eine gewaltige Kraftanstrengung bedeutet, das Werk angemessen zu besetzen.

Sie hatten sich im Frühsommer dieses Jahres selbst um die Intendantenstelle am Theater Bielefeld beworben. Macht es Ihnen nichts aus, jetzt unter einem anderen hier künftig zu arbeiten?
Joel Revelle: Nein, das ist kein Thema. Michael Heicks und ich können offen und ehrlich miteinander sprechen.

Können Sie die Aufgaben eines Künstlerischen Betriebsdirektors und eines Operndirektors kurz umreißen und erklären, warum es Sinn macht, beide Positionen in einer Hand zu vereinen?
Joel Revelle: Der Betriebsdirektor hält die organisatorischen Fäden sämtlicher Sparten zusammen. Er ist zum Beispiel für die Disposition der Proben zuständig. Das geht nicht ohne fachliches Hintergrundwissen und Feingefühl für die Kunst, weil man wissen muss, wen man für welche Rolle einsetzen kann. Wo es um die Entwicklung und Aufstellung von Spielplänen geht, bin ich als Operndirektor gefragt. Beide Positionen befähigen mich, die Mitglieder des Ensembles ihren Fähigkeiten entsprechend einzusetzen, um die Qualität des Hauses optimal herauszustellen.

In welchem Maß haben Sie Einfluss auf die Gestaltung des Spielplans der Sparte Musiktheater?
Joel Revelle: Das gehört zu meinen Hauptaufgaben und geschieht in enger Absprache mit dem Intendanten, den Dramaturgen und mit Peter Kuhn, den ich bereits am Theater Luzern kennen lernen konnte und mit dem ich in Gießen zwei Produktionen gemeinsam realisierte. Zuletzt »Antigone« von Tommaso Traetta, einem tollen, aber weithin unbekannten Zeitgenossen von Christoph Wilibald Gluck.

Es heißt, Sie hätten in Gießen mit Ausgrabungen und Erstaufführungen - also mit einem eher unpopulären Repertoire -ÊÊdas Publikum gewinnen können. Wie haben Sie das erreicht?
Joel Revelle: Mit verschiedenen Elementen. Wir haben am Stadttheater Gießen nur ein kleines Ensemble, das aus lediglich vier Mitgliedern besteht. Das ermöglicht uns aber größte Flexibilität bei der Verpflichtung von Gästen, die wir gezielt nach den Anforderungen des jeweiligen Stücks aussuchen. Dadurch haben wir eine enorme Qualitätssteigerung erreicht, die vom Publikum wahrgenommen wird.
Zum anderen haben wir stets das Stück und die Menschen zur Basis der Inszenierung gemacht und dem Werk nicht irgendein Konzept übergestülpt. Das kommt an. Und spricht sich herum. So haben wir das Opernpublikum auch für Stücke wie Fedora von Umberto Giordano begeistern können, ein Werk, das seit 100 Jahren nicht mehr auf einer deutschen Bühne gespielt wurde. Mittlerweile sind die Leute neugierig auf weitere Werke gleicher Machart.

Wie steht's mit dem Neuen Musiktheater? Auch in dem Bereich gibt es in Bielefeld eine Tradition.
Joel Revelle: Das soll auch so bleiben. Darum wird sich überwiegend Anke Hoffmann kümmern, die als Dramaturgin auf dem Gebiet schon gearbeitet hat.

Welche Akzente gedenken Sie in Bielefeld zu setzten? Mit welchen Regisseuren werden sie bevorzugt arbeiten?
Joel Revelle: Das kann ich derzeit noch schwer beantworten. Einerseits bin ich sehr offen, andererseits ist es mir auch immer wichtig, die Stimmung in der Stadt und beim Publikum zu erspüren und mich darauf einzustellen.

Was kann beziehungsweise was sollte Musiktheater Ihrer Meinung nach in heutiger Zeit leisten und an Werten transportieren?
Joel Revelle: Dass Theater immer auch ein Stück weit politisch inspiriert ist, liegt in seiner Natur. In Zeiten, in denen das Fernsehen und die Medien überpräsent sind, ist es mir aber wichtig, dass das Theater Fantasieräume freisetzt. Das ist im Musiktheater besonders gut möglich, weil die Musik Emotionen anspricht. Die Sprengkraft ist in diesem Bereich noch irrsinnig groß.

Sehen Sie angesichts allgemeiner Haushaltslöcher und Sparmaßnahmen noch genügend Spielräume, um qualitativ hochwertige Kultur zu ermöglichen?
Joel Revelle: Die Basis ist vorhanden. Gerade in einer Stadt wie Bielefeld, die es sich leistet, das Stadttheater zu sanieren. Darin sehe ich auch ein Bekenntnis zum Theater und ein Zeichen, dass das Theater fest in der Stadt und den Köpfen der Menschen verankert ist.

Sie sind in Bitburg geboren, amerikanischer Staatsbürger und tragen einen französischen Namen. Wie geht das zusammen?
Joel Revelle: Meine Eltern stammen aus dem US-Bundesstaat Vermont - das liegt an der nordöstlichen Grenze zu Kanada -Êund waren in Bitburg stationiert. Amerika kenne ich nur aus den Ferien. Dort gelebt habe ich nie. Da meine Vorfahren Hugenotten waren, kommt es zu dem Namen.

Welcher Nationalität fühlen Sie sich zugehörig?
Joel Revelle: Da bin ich manchmal hin- und hergerissen. Besonders, wenn in Amerika mal wieder Wahlen anstehen. Aber eigentlich fühle ich mich als Europäer, zumal ich mich der kulturellen Tradition verbunden fühle und an einem altsprachlichen Gymnasium mein Abitur gemacht habe. Während meines Studiums der Theaterwissenschaften bin ich mit Romanistik, Anglistik und Germanistik in Berührung gekommen.

Wie werden Sie Weihnachten feiern und was haben Sie sich gewünscht?
Joel Revelle: Im Theater, bei einer Vorstellung von Donizettis Lucrezia Borgia, einer großen Belcanto-Oper. Eigentlich haben wir in der Familie vereinbart, dass wir uns nichts schenken. Aber wenn es wirklich nichts gibt, bin ich der Erste, der beleidigt ist (lacht). Eine Freude kann man mir mit CD-Aufnahmen unbekannter Opern machen. Da erwacht der Pioniergeist des Schatzgräbers in mir.

Artikel vom 23.12.2004