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Generationskonflikt

Auf Retro-Wellen zum
Methusalem-Komplott

Zunächst die schlechte Nachricht: Wir alle sind 2004 wieder ein Jahr älter geworden. Und jetzt die gute: Es fällt kaum auf. Die meisten Anderen um uns herum werden ebenfalls älter.


Alle 30 Sekunden rutscht in Deutschland einer der »Babyboomer« über die 50-Jahre-Grenze.
100 Jahre alt zu werden ist nach Ansicht der modernen Wissenschaft medizinisch bald kein Problem mehr. Doch können wir uns ein so langes Leben leisten?
»Trau keinem über 30« klebte frech in den Siebzigern des vergangenen Jahrhunderts auf den Heckklappen unserer Autos. Viel hat sich seitdem verändert. Heute dröhnen aus den 12 000 Watt-Boxen der Großraum-Diskos die »Cover-Versionen«Êund »Remakes« schon fast vergessener Hits aus den siebziger, achtziger und neunziger Jahren. Mutter lächelt, weil die Tochter ihr Zimmer mit der gleichen pink-orange-gelben Ringeltapete verschönert, die schon in ihrer Jugend modern gewesen ist. Schade nur, dass sie die Möbel aus jener Zeit vor fünf Jahren auf den Sperrmüll gegeben hat. Das Radio, das der Sohn eingeschaltet hat, spielt de Randfichtens »Lebt denn der alte Holzmichel noch?« Vater lächelt und singt mit: »Ja, er lebt noch . . . «
Retro, immer nur Retro. Es scheint, als gäbe es in der ersten Dekade des neuen Jahrtausends keinen Grund mehr für einen Generationenkonflikt. Denn auch die Alten sind nicht mehr die, die sie früher einmal waren. Finanziell geht es ihnen dank ausgezahlter Lebensversicherungen, Abfindungen, Erbschaften und dem Wegfall von Belastungen für die Hypotheken und Kindererziehung im Durchschnitt vergleichsweise gut. Man tanzt, man verreist, man flüchtet vor den kalten Tagen ans Mittelmeer oder chattet bei Lycos unter »50 -Êjetzt erst recht«.
Natürlich leben so nicht alle Angehörigen dieser Generation. Aber es sind nicht wenige, und vor allem: Es sind die, die für die Wirtschaft von Interesse sind. Die Werbebranche, wie immer besonders fix, wenn auch vom »Jugendwahn« noch nicht genesen, hat dem Phänomen bereits einen Namen gegeben: »Best Age« -Êdie Leute im »besten Alter«. Den Markt nennen sie »Silver Market« -Êwohl in Anlehnung an die veränderte Haarfarbe, die,Êein bisschen widersprüchlich, anscheinend doch nicht alle übertünchen. Unter »www.reifemaerkte.de« finden Unternehmer heute schon Tipps, wie sie Zugang zu dieser Generation und Käuferschicht erhalten. Sogar die Politiker schalten sich ein. Das Land Nordrhein-Westfalen veranstaltet am 17. und 18. Februar 2005 im Alten Wasserwerk in Bonn die »Erste Konferenz zur Seniorenwirtschaft in Europa«.
Skeptiker erkennen allerdings in dem Ganzen immer mehr den Tanz auf einem Vulkan. Noch grollt dieser erst im Innern. Je länger er brummt, aber nicht ausbricht, desto schläfriger scheint die Gesellschaft zu reagieren.
In diese trügerische Ruhe platzte 2004 der Weckruf des 45-jährigen Mitherausgebers der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Frank Schirrmacher. Sein Buch »Das Methusalem-Komplott« handelt vom bevorstehenden »Krieg der Generationen«.
Das klingt - und ist -Êdramatisch. Schirrmacher entwirft in seiner Kassandra-Schrift eine Vision von erbitterten Streitkräften, die bald auf die zumarschieren, die heute 20, 30 oder 60 Jahre jung sind. Gekämpft wird um Arbeitsplätze und Renten, um Selbstbewusstsein, Gesundheit und damit letztlich um das Recht auf (Weiter-)Leben.
Die Frage, ob die Finanzierung eines neuen Hüftgelenkes für einen 80-jährigen durch die Allgemeinheit noch gerechtfertigt ist, beschäftigte 2004 sogar den Bundesvorsitzenden der Jungen Union. In Großbritannien gelten für bestimmte gesundheitliche Maßnahmen festgelegte Altersgrenzen. Schirrmacher berichtet von Studien, wonach gerade die letzten Monate des Leben besonders teuer sind. Den Schluss, Euthanasie aus wirtschaftlichen Gründen zu rechtfertigen, zieht er ebensowenig wie die übergroße Mehrheit der Bevölkerung. Doch Schirrmacher warnt: Das Gefühl, eigentlich überflüssig und den Anderen nur noch eine Last zu sein, wird auch so seine Wirkung entfalten.
Die »Midlife-Crisis«, die bei der »50 -Êjetzt-erst-recht«-Generation sogar Anlass zu Belustigung gab, wird Schirrmacher zufolge abgelöst werden von einer echten Lebenskrise der 40- bis 50-jährigen. Während sie sich noch jung fühlen, setzt bereits die Altersdiskriminierung ein. Sie verschärft sich mit dem Näherrücken der Ruhestandsgrenze.
»Die Rente ist sicher«, hat der frühere Sozialminister Norbert Blüm bis zum letzten Tag seiner Amtszeit verkündet. Diese starke Sicherheit in dem Sinne, dass ein sorgenfreies Altersleben garantiert ist, gibt es nicht mehr. Schon jetzt flüchtet die Politik in Nullrunden, aus denen defacto Minus-Anpassungen werden.
Spekuliert wird sogar über eine Verlängerung der Arbeitszeit bis zum 67. oder 70. Lebensjahr. Das durchschnittliche Rentenzugangsalter hat sich 2003, nachdem es drei Jahrzehnte lang immer weiter zurückging, erstmals wieder erhöht, und zwar bei Männern von 62,3 auf 63,1 Jahre. Wirtschaftliche Maßnahmen haben dazu geführt, dass die Frühverrentung immer unattraktiver wird. Das Deutsche Institut für Altersforschung hat ausgerechnet, dass bis 2008 etwa 560 000 ältere Arbeitnehmer zusätzlich dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. Jüngere könnten befürchten, dass damit ihre Arbeitsplätze und Aufstiegschancen verbaut werden.
Im Jahr 2040 wird jeder Zweite älter als 50 Jahre sein. Stecken wir dann im »Krieg der Generationen« oder leiden wir nur still unter der »Vergreisung der Gesellschaft«? Beide Szenarien sind deprimierend negativ. Doch es gibt Hoffnung, solange die Zukunft noch von Menschen gemacht wird und nicht von Statistiken.

Ein Beitrag von
Bernhard Hertlein

Artikel vom 31.12.2004