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Lokal -ÊGlobal

Chinas Lok zieht
manchen Betrieb
auf neue Gleise

Es gab eine Zeit, da war es wirklich egal, ob »hinten in der Türkei die Völker aufeinander schlugen« oder ob gar »im fernen China ein Sack Reis umfiel«. Heute, im globalen Dorf, ist vieles anders.


Der Transrapid führe wohl noch immer nur seine Endlos-Schleifen auf der Teststrecke im Emsland, hätte nicht plötzlich China die Magnetschwebe-Technik für sich entdeckt. Der Großauftrag aus Schanghai sorgte zeitweise dafür, dass die Produktion im Kasseler Thyssen-Werk endlich ausgelastet war.
High Tech, wenngleich auf winzigen Schienen, steckt auch in jeder Modelleisenbahn von Märklin. Nichts schien das mittelständische Unternehmen in Göppingen aus den Gleisen werfen zu können - bis 2004. Im Herbst kündigte das Management an, einen Teil der Produktion nach Ungarn zu verlagern. Die chinesischen Spielwaren-Importe halten zwar keinerlei Qualitätsvergleich stand; doch wenn der Preisabstand zwischen den Produkten zu groß wird, haben die deutschen Modelleisenbahnbauer ein Argumentationsproblem gegenüber ihren Kunden.
Maschinen und Energie, Bildung und Know-how in fast jeder Branche sind heute weltweit verfügbar - dank moderner Übertragungstechniken sogar fast zeitgleich. Die niedrigen Transportkosten machen Produktionsstandorte endgültig fast austauschbar. Auf diese Herausforderung hat Deutschland auch 2004 noch keine Antwort gefunden.
Dabei beginnt »der Osten« nicht erst hinter der chinesischen Mauer. Auch in Polen, Tschechien und erst recht in Ländern wie Rumänien und der Ukraine schuften die Beschäftigten wesentlich länger zu wesentlich geringeren Löhnen als in Deutschland.
Zwar ist das Reservoir an Facharbeitern begrenzt und die Produktivität meistens sehr viel niedriger als in Deutschland. Trotzdem erzeugt die Situation genug Druck, um die Arbeits- und Produktivitätsbedingungen hier im Eilschritt von Betrieb zu Betrieb neu festzulegen. Bei vielen Zeitgenossen hat sich inzwischen das Gefühl eingestellt, als befänden sie sich in einer Spirale nach unten, aus der es keinen Ausweg gibt. Manchmal -Êwie 2004 bei Karstadt und Opel -Êkommt es zum Protest. Die Mehrheit aber klagt leise und passt sich an.
Arbeitgeber und Manager mögen sich damit zufrieden geben, dass ihre Belegschaften die neuen Bedingungen akzeptieren. Die schlechte Stimmung in der Bevölkerung, die die Binnenkonjunktur weiter im Tal hält, schieben sie der Politik zu, die dafür auch ausreichend Gründe bietet.
Trotzdem machen es sich die Bosse damit zu einfach. In kaum einer anderen Region wird der Faktor Motivation so gering geachtet wie in Deutschland. Dabei stimmt es durchaus, was dem Vater des deutschen Wirtschaftswunders, Ludwig Erhard, in den Mund gelegt wird: Dass 50 Prozent dessen, was die Wirtschaft ankurbelt, Psychologie ist. In gleichem Maße aber gilt, dass auch ein Großteil der Arbeitsleistung im Kopf entsteht. Motivierte Beschäftigte schaffen wesentlich mehr; demotivierte Arbeitnehmer können mit ihrem Defätismus eine ganze Belegschaft vergiften.
Bosse, die nur mit der Angst vor dem Arbeitsplatzverlust argumentieren, unterfordern ihre Mitarbeiter. Modelle, die die Belegschaften am Gewinn beteiligen, haben in der Regel größeren Erfolg. Dazu kommt das Argument der Glaubwürdigkeit: Wer in Krisenzeiten dem Unternehmen Geld entzieht, um privat ein schöneres Leben zu führen, macht sich ebenso unglaubwürdig wie der Konzern, der dem gescheiterten Manager noch eine Abfindung in unvorstellbarer Höhe hinterher wirft.
Es gibt sie noch, die Unternehmen, die erfolgreich nur an einem Standort produzieren. Der ostwestfälische Küchenhersteller Nobilia etwa gehört dazu, ebenso das Bekleidungsunternehmen Trigema und der fränkische Spielwaren-Produzent Playmobil. So mancher andere Betrieb erst durch die Hin-und-her-Hopserei seines Managers krisenanfällig und krank.
In Mitteleuropa ist man es gewohnt, jede Veränderung in der Welt auf sich zu beziehen. Dabei dreht sich die Erde wirtschaftlich gesehen längst um viele, teils quer zu einander stehende Achsen. Japan beispielsweise wird durch den China-Boom noch viel mehr getroffen und verändert. Das Gleiche gilt für Taiwan. Auch die USA sind nervös geworden. Wie in Europa gilt dort nicht mehr, dass Wachstum zwangsläufig Arbeitsplätze schafft. Viel schneller als hier zu Lande greift die Administration zu kurzfristigen Abwehrmaßnahmen wie Schutzzölle.
Für die Welttextilwirtschaft bringt der Jahreswechsel 2004/05 die endgültige Liberalisierung. Der Wegfall von Zöllen und Import-Kontingenten trifft einige Entwicklungsstaaten, die wie Bangladesch und Kambodscha bisher davon profitiert haben.
Die Verbraucher können sich freuen. Verläuft alles normal, werden Preise für Hemden, Blusen und Hosen bald sinken. Ob dies die Stimmung endlich verbessern wird?

Ein Beitrag von
Bernhard Hertlein

Artikel vom 31.12.2004