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Mit einem Treffen heute Abend wird es nichts«, sagte sie mit gepresster Stimme. »George É mein Mann É hat mich vorhin angerufen. Er hat einen früheren Flug genommen É«
Beide gingen aufeinander zu und umschlangen sich leidenschaftlich.
Sie hielten sich fest, als ob sie die Wochen der Trennung vergessen machen wollten. Schließlich riss sich Delia los, lief zur Tür, rückte sorgfältig ihre Kleidung zurecht und drehte dann den Schlüssel zurück.
Sie rief beim Hinausgehen: »Ich muss erreichbar sein.«
Duncan hörte sie eine rückwärtige Tür öffnen. Als sie etwas später wieder hereinkam, eilte sie an den Arbeitstisch, schnappte sich das vorher abgelegte Kuvert, fächelte sich damit kapriziös Luft zu und schob zwei Stühle heran. »Setzen wir uns. Ich habe hier etwas für den jungen Herrn, was diesen sicher interessieren wird.«
»Ein Schreiben? Für mich?«
»Ja! Ein Brief aus Italien!«, sagte sie mit triumphierender Stimme.
II. »Sólo Madrid es corte«Aus den Erinnerungendes Diego Rodríguezde Silva y Velázquez
Madrid 1648
Madrid, September 1648Der Chronometer zeigt mir Nona, die Vollendung der dritten Stunde des Nachmittags. Ich verspüre Lust, einen der großen Fensterflügel der Westfassade zu öffnen, um für einige Augenblicke dem ewig brütenden Dunst des Palastes zu entrinnen. Es stimmt mich froh, dass ich mir diese Augenblicke gönnen kann. Ich liebe es, bei dieser Gelegenheit meinen Gedanken nachzuhängen, mich wieder auf das zu besinnen, was mich mit Stolz erfüllt.
Von der Ebene kommend weht um diese Zeit immer ein leichter Wind den Hang zum Buen Retiro herauf, dem Refugium meines Königs, am Ostrand von Madrid gelegen. Tief atme ich den belebenden Odem ein. Noch wirbelt er rein von den grünen Ufern des Manzanares her, die, im milchigen Dunst liegend, die königliche Stadt im Westen begrenzen. Ein Windstoß trägt gleichzeitig das Tirilieren exotischer Vögel vom großen Vogelhaus herüber an mein Ohr, und meine Nase verrät mir, dass er sich vorher schon mit dem verführerischen Duft aus den Abzügen der Casa Panadería mischte, die vielen Madrilenen den morgigen Sonntag mit feiner Backware versüßen wird.
In den späten Herbsttagen allerdings, wenn die Kastilische Hochebene von der extremen Hitze erlöst wird, um bald von noch extremerer Kälte geplagt zu werden, treibt die starke Brise meist Wolken von Rauch von Westen heran, der plötzlich vom gewaltigen, hoch oben auf den Felsen am westlichen Rand Madrids thronenden Alcázar über die Stadt hinweg bis zum Prado hin ungezählten Schloten entweicht. Dann und wann ziehen auch wieder übel riechende Schwaden aus Madrids überfüllten, schmutzverkrusteten Straßen herauf, vor denen der gesamte Hofstaat nur hier, in der »schönen Zuflucht«, Rettung findet. Gewissermaßen als Entschädigung blitzt dafür in der klaren Luft die blattgoldverzierte Kuppel über dem Sanktuarium der San-Andrés-Kapelle herüber, und selbst die grauen Fassaden der Häuser in der Calle de la Concepción Jerónima sehen freundlich aus, eine Häuserzeile, in der sich auch das großzügige Zuhause meiner Familie befindet.
Werden die Westwinde in den Wintertagen stürmischer, genieße ich mehr den Ausblick nach Osten. Ein riesiges Gartengelände, das in den letzten zwölf Jahren wuchs und wuchs, bis die königlichen Parks auf den heutigen Tag schließlich die Fläche der halben Ausdehnung Madrids einnehmen. Die Größe des Refugiums bietet mir reichlich Platz und Gelegenheit, immer wieder dorthin zu entfliehen, in dem Meisterwerk der Gartenkünstler die Stille zu suchen und dem Gesang der Nachtigall zu lauschen É
Ich erinnere mich noch an den 1. Dezember des Jahres 1633, als auf einen Schlag endlose Wagenkolonnen mit Baumaterial eintrafen und Hunderte von Handwerkern und Arbeitern anrückten und begannen, den Palast zu errichten, den sie unter Aufgebot aller ihrer Kräfte unter härtesten Bedingungen innerhalb von nur sechs Monaten vollenden sollten und der danach, durch königliches Dekret, den Namen »Buen Retiro« erhielt.
Damals war ich, Diego Rodríguez de Silva y Velázquez, im Palast des Planetenkönigs schon zum Pintor de cámera bestellt. Nicht schlecht, wenn man bedenkt, dass ich erst zehn Jahre zuvor, von Sevilla kommend, mit einem Monatsgehalt von gerade nur zwanzig Ducados, zum königlichen Maler ernannt worden war. Das Einzige, was ich mir damals erhofft hatte, war eine Gelegenheit, in dieser Umgebung mein Talent zeigen zu können, das mir Ruhm, Ehre und Reichtum verhieß. Doch, ich gestehe, rückblickend besehen verlief mein Weg unter einem guten Stern É
Begonnen hatte es mit meinem Gemälde, das mir ein Sevillaner Edelmann abkaufte. Es zeigte Carlos Valdes, einen armen Mann aus dem untersten Stand Sevillas, bei seiner Arbeit als Wasserverkäufer. Als Kind trank ich an heißen Tagen sehr gern ein Glas kühles Wasser, das aus seinem bauchigen Steinkrug rann, welchen er ernst und behutsam wie eine geheiligte Monstranz Tag für Tag durch die Straßen Sevillas trug. Ich hatte ihn bei seiner Arbeit oft heimlich begleitet, um jede seiner Handreichungen zu beobachten. Ich hatte etwas von seiner andächtigen Seele verstehen gelernt. Und so wusste ich, worauf es ankam, als er mir schließlich nachgab und sich in meiner Werkstatt unter das hohe Fenster setzte. Er saß so regungslos da, dass ich seinen Kopf wie ein Bildhauer modellieren konnte. Er küsste mich auf die Stirn, als er sah, was ich auf die Leinwand gebracht hatte. Carlos Valdes lebte die Andacht. Das Wasser bescherte ihm seinen winzigen Verdienst und gab ihm seine Aufgabe für die anderen Menschen. Es war ihm offenbar heilig.
»Du besitzt eine unglaubliche Kühnheit, Diego!«, rief Francisco Pacheco begeistert, als er das Gemälde prüfte. Sein Urteil bedeutete mir damals viel, war er doch mein Lehrer und später, nachdem ich seine Tochter Juana ehelichte, auch zugleich mein Schwiegervater geworden.
Mein Wasserverkäufer war viel bescheidener, aber lebendiger als die blutleeren Figuren, die die hochgelehrten und eingebildeten Sevillaner Künstler damals in ihren Bildern vorführten. Auf einige Wirkungen, die mir damals gelungen waren, konnte ich wahrhaftig stolz sein. So tüftelte ich an den genauen Übergängen der Beleuchtung der Krüge mit ihren grauen und braunen Schatten, wie dies bis dahin keiner meiner Rivalen beachtet hatte. Ich sah mit Staunen, wie das Licht in das Wasserglas so einfiel, dass es gleichzeitig innerhalb des Glases und auf die haltenden Hände zurückgeworfen wurde, und hielt das fest. Immer wieder konnte ich mit meinen einfachen Beobachtungen die Menschen zum Staunen bringen. Und es war durchaus eines Malers wert, zu verfolgen, wie das schräg einfallende Licht von den horizontalen Furchen des großen Steinkruges im Vordergrund meines Bildes eingefangen wurde, während an seiner frontalen Seite durchsichtige Wassertropfen herunterrannen É
Ja, ich empfinde heute wie damals einfach große Lust, meinen Augen zu trauen und von den komplizierten Bilderzählungen abzuweichen, die von anderen ausgedacht und ständig gegenseitig abgemalt werden. Die Menschen und Dinge aus dem einfachen Leben sind für mich die Welt, in die ich vorstoße und deren Adel ich entdecke. Sie sind eine einzige, doch mächtige Quelle der Inspiration, aus der ich heute noch schöpfe. Die Natur enthält die reichsten Botschaften, deren Schlüssel das Schauen ist. Der Blick auf ein Messer, auf Fische, auf Brot und Wein lässt an unsere Genüsse, aber auch an das Leiden unseres Erlösers denken. Ob es die feuchten Muscheln oder die saftigen Trauben sind: In ihnen sind die Elemente der Natur verborgen und die Anreger unserer Sinnesfreuden. Wie vieldeutig deshalb unser Schauen sein kann, das wissen die Menschen zur Genüge. Ich habe es darum immer für überheblich gehalten, wenn die Maler unnötig belehren; ganz natürlich zu sehen ist viel ehrlicher. Meine frühen Werke zeigten die Nahrungsmittel auf den Esstischen und Küchenborden. In diesen steckte alles: vom Hunger und von der Andacht bis zum Laster der Völlerei.
Nun, ich habe mein Wissen und den Gebrauch meiner Augen selbst vorangetrieben, habe gelernt, Farben selbst herzustellen und sie gewandter auf die Leinwand zu setzen, und bin bei allem nicht der Gefahr erlegen, durch ausschließliche Nachahmung der italienischen oder flämischen Gemälde meine eigene Art zu verstellen, wie dies die meisten meiner Rivalen taten. Zugegeben, manches meiner früheren Werke würde ich heute am liebsten nochmals malen oder ein wenig lichter ausgestalten - was ich manchmal tue, sofern ich darauf Zugriff habe und mir die Zeit dafür bleibt É
Inzwischen sind knapp zwanzig Jahre vergangen, seit ich an den Hof meines Königs, Seiner edlen Katholischen Majestät Philipps IV., kam. Wo blieb nur die viele Zeit? Wie aufregend war es in jenen frühen Jahren, aus dem bunten Leben von Sevilla in die große Welt von Madrid zu wechseln. Mein Wasserverkäufer hatte mit Juan de Fonseca y Figueroa, dem einflussreichen königlichen Kaplan und Förderer meines Maltalents, schon vor mir seinen Weg nach Madrid genommen. Der fromme Fonseca half mir den Weg in den ersehnten Hofstaat des Alcázar zu ebnen.
Schon mein erstes Bildnis, das ich dank der Vermittlung meines Schwiegervaters von dem berühmten Dichter und Gelehrten Luis de Góngora anfertigte, trieb meinen Fürsprecher Fonseca erneut an, sich für mich am Hofe einzusetzen. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 27.12.2004