18.12.2004 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

Schneekönigin
ist nicht kalt

Castorf inszeniert erstes Märchen

Von Elke Vogel
Berlin (dpa). Es war einmal an der Berliner Volksbühne: Dort inszenierte am Donnerstagabend Intendant Frank Castorf sein erstes Märchen. »Meine Schneekönigin« heißt das Stück frei nach der Dichtung von Hans Christian Andersen. »Diese Welt sehnt sich nach Märchen«, sagt Castorf. »In einer Welt, die durch Bill Gates geprägt ist, interessiert mich der Erfolg von Harry Potter.«

Der Zauberlehrling kommt nicht vor in Castorfs Märchendeutung. Dafür tummeln sich neben der Schneekönigin, der verliebten Gerda und dem entführten Kay auch Engel, Teufel, lebendige Sex-Puppen, Teekännchen, echte Ziegen und eine überdimensionale Nacktschnecke auf der Bühne. Lange zwei Stunden und 40 Minuten lässt Castorf pausenlos durchspielen. Das Publikum spendete freundlichen Applaus.
Pünktlich zum 200. Geburtstag von Andersen im nächsten Jahr wirft Castorf einen Blick in die Seele des dänischen Dichters. In Wort und Bild zitieren die Schauspieler aus Andersens Tagebüchern. Sie zeigen ihn als Hypochonder, heimlichen Homosexuellen, Narziss, einsamen Missverstandenen, Scherenschnitt-Künstler und passionierten Reisenden. Daneben kämpfen die eigentlich gar nicht so kalte Schneekönigin (Jeanette Spassova) und die treue Gerda (Birgit Minichmayr) um das Herz des kleinen, egoistischen Kay (Alexander Scheer).
In wechselnden Rollen sind unter anderem Volker Spengler und Herbert Fritsch zu sehen: zum Beispiel in dem eindeutig zweideutigen Mini-Märchen, in dem das Plätteisen dem eitlen Kragen über den nackten Hintern bügelt. Überhaupt zeigen die Herren der Schöpfung viel nackte Haut. Es wird in Schaum und kleinen Wannen gebadet, überall viel Nebel und Schnee. Bühnenbildner Bert Neumann hat als Spielfläche einen teils aus Backsteinen gemauerten, teils mit Holz getäfelten Kellerraum geschaffen. Eine braune Couch entpuppt sich als Abstieg in die Hölle für die kalten Menschen mit den dunklen Trieben.
Wann immer sich oben am Ende der Kellertreppe die Tür öffnet, tobt ein Schneesturm auf die Bühne und bis ins Publikum. Sinnbildlich für das Kalte in den Herzen, den Verlust der Liebe, die Unmöglichkeit der Liebe überhaupt. Dabei sind es vor allem die Frauen, die letztlich an die Liebe glauben, um sie kämpfen und doch an ihr zugrunde gehen. Für den Zuschauer ist es allerdings schwer, der Handlung ohne richtigen roten Faden zu folgen, schon bald muss er sich an freien Assoziationen festhalten.
»Wir leben in einem nachwissenschaftlichen Zeitalter, in dem Spekulation und Intuition wieder wichtig werden«, begründet Castorf seine Beschäftigung mit Märchen. Sein Stück will romantisch und abschreckend wirklichkeitsnah zugleich sein. Damit sich in der Weihnachtszeit nicht unbedarfte Eltern mit den lieben Kleinen in die Volksbühne verirren, warnt Castorf: »Wegen der märchenüblichen pornographischen Elemente nur für Erwachsene und Kinder in Begleitung von Erziehungsberechtigten.«

Artikel vom 18.12.2004