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Leitartikel
Türkei/EU: Fiktion, Wahrheit

Wenn der
Kopf mal
Pause macht


Von Rolf Dressler
Wer oder was treibt eigentlich all diejenigen politischen Köpfe und sonstigen intellektuellen und medialen Meinungsführer, denen der Beitritt der Türkei zur Europäischen (?) Union gar nicht rasch genug kommen kann?
Zu befürchten ist, dass dazu wohl erst der nächsten Generation Generation wirklich ein Licht aufgehen wird. Dann allerdings könnte es ein Erwachen der besonderen Art geben - und zu spät sein, folgenschwere Fehleinschätzungen und ideologische Verirrungen zu korrigieren und zu reparieren.
Schon jetzt ist Bedenkliches im Verzuge. Selbst so unterschiedliche Kritiker wie Alt-Kanzler Helmut Schmidt, Wolfgang Schäuble, Egon Bahr und sogar der gleichfalls ohnehin über jeden Zweifel erhabene Chefarchitekt der neuen EU-Verfassung, der Franzose Giscard d'Estaing, werden von glühenden Türkei-Für- streitern - offen oder verdeckt - mit einem bestimmten Geruch be- hängt: Nur rückwärtsgerichtete »Fundamentalisten« (!) wie sie hätten Einwände gegen eine Vollmitgliedschaft der Türkei in der EU.
Plötzlich stempelt die politische Linke tatsächlich sogar auch eine ihrer Leitfiguren von gestern, den langjährigen Karlsruher Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde, zum Buhmann. Auch er soll nun offenbar dafür büßen, dass er, obgleich schlüssig begründet, sein Nein zu dem Beitritt der Türkei formulierte. Dasselbe Schicksal teilt mit Böckenförde übrigens der renommierte Bielefelder Historiker Hans-Ulrich Wehler, der gestern abend bei »Sabine Christiansen« im Ersten Fernsehprogramm seine kritische Sicht erneut untermauerte.
Wieder ist eine überreichlich er- probte Polit- und Medien-Maschinerie am Werke, die auch in der wahrlich existentiellen Jahrhundert-Unternehmung christlich gegründetes Europa/total islamische Türkei vor allem ein Ziel hat: Wer, wenn auch noch so plausibel, da- gegen ist, wird niedergeredet, ab- gekanzelt, unter Verdacht ge- stellt. Die Masche ist geläufig.
Und zu diesem Zweck wird hü- ben wie drüben geschwindelt, dass sich Eichen und Zedern biegen.
Die Türken hätten »alle Bedingungen« für Beitrittsverhandlungen erfüllt, behaupten wider bessseres Wissen Gerhard Schröder (SPD), Volker Rühe (CDU), Joschka Fischer (Grüne) und viele andere. In der Türkei würden alle Religionen »uneingeschränkt« respektiert, sagt Regierungschef Tayyip Erdogan. Und Mehmet Yil- dirim, Generalsekretär der »Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion« in Deutschland, pflichtet ihm bei und fordert von der deutschen Regierung, es der Türkei doch baldigst gleichzutun.
Die (stolze) Türkei selbst aber unterdrückt seit langer Zeit mit aller Macht andere Kulturen und Religionen: Armenier, Griechen, Kurden, und, und, und. Erklärtermaßen ist der sunnitische Islam praktisch Staatsreligion.
Dies öffentlich auszusprechen, scheint fortan nicht mehr angesagt zu sein. Im kirre gedrehten Duckmäuser-Deutschland noch weniger als anderswo.

Artikel vom 20.12.2004