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Amnesty appelliert an Sudans
Präsidenten: »Täter verfolgen«

Bielefelder Gruppe der Menschenrechtsorganisation steuert Aktionen

Von Bernhard Hertlein
Bielefeld/Karthum (WB). Dramatische Entwicklungen spiegeln sich manchmal in unscheinbaren Statistiken wider. In früheren, durchaus auch nicht »normalen«ÊJahren veröffentlichte die Menschenrechtsorganisation amnesty international etwa 20 Papiere - Eilaktionen, Presseerklärungen - zum Sudan. In diesem 22. Kriegsjahr sind es kurz vor Jahresende bereits mehr als 160.

Koordiniert werden die Aktionen in Deutschland ehrenamtlicherseits von der Sudan-Ländergruppe in Bielefeld. Ihr Vorsitzender Peter Schäfer (49) müsste eigentlich schon durch seinen »Hauptjob« voll ausgelastet sein: Der katholische Geistliche ist Pfarrer der Kirchengemeinde St. Pius, die auch den Bielefelder Stadtteil Bethel und damit die Krankenhäuser Gilead und Mara umfasst. Trotzdem engagiert er sich zusätzlich für die Menschenrechte in dem flächengrößten afrikanischen Land. Eigene Erfahrungen spielen dabei auch eine Rolle: Pfarrer Schäfer besuchte bereits vier Mal Kenia, den südöstlichen Nachbarstaat des Sudan, und hält engen Kontakt zu Bischof Colin Davis in Nairobi.
»Als wir Gras sammelten, griffen uns fünf Janjawid-Männer an«, berichtet ein 15-jähriges Mädchen in einem der vielen ai-Informationsblätter über die Verfolgungen in der Region Dafur. »Nun bin ich im dritten Monat schwanger. Wir haben es der Polizei gmeldet, aber es passiert nichts.« Nach Aussage von Schäfer dienen systematische Vergewaltigungen -Êoftmals sogar vor den Augen der Männer -Êdazu, die Menschen zu erniedrigen, Familien zu zerstören und damit die Vertreibung unumkehrbar zu machen.
Ein Mitglied von Schäfers Gruppe, die in Berlin lebende Sudan-Expertin Annette Weber, war selbst im Tschad, um in den Flüchtlingslagern betroffene Darfuris zu interviewen. Zu der fast unerträglichen psychischen Belastung kam bei Temperaturen von tagsüber mehr als 40 Grad in dem Wüstenland die körperliche.
Der Bericht, den Weber anschließend schrieb, war Anlass zu vielen Aktionen. Wie bei anderen Sudan-Berichten auch organisierte die Ländergruppe die Übersetzung ins Deutsche, sorgte auf dem Postweg, durch ihre Kontakte zur Presse und im Internet für die Verbreitung. Viermal jährlich informieren Schäfer, der die Gruppe übrigens schon seit dem Jahr 2000 führt, und seine fünf Mitstreiter in ihrem »Sudan-Rundbrief« und noch wesentlich häufiger in einem elektronischen »Newsletter«. Eine von der Gruppe organisierte, an den sudanesischen Präsidenten Omar Hassan Ahmed al-Bashir gerichtete aktuelle Unterschriftenaktion fordert unter anderem, dass diejenigen, die für die Verbrechen in Darfur Verantwortung tragen, in ordentlichen Gerichtsverfahren zur Rechenschaft gezogen werden - »selbstverständlich unter Ausschluss der Todesstrafe«, betont Schäfer.
Mitten im Gespräch greift der Pfarrer zu einem anderen, aktuellen Dokument: die Zeugenaussage einer Frau aus Darfur, deren Bruder in Saraf Omar in West-Dafur von Armeesoldaten gefangengenommen, entführt, entkleidet und angezündet wurde. Als die Schwester in das Tal reist, in dem ihr Bruder umgebracht wurde, wird sie selbst verhaftet, geschlagen und an Armen und Füßen einen ganzen Tag lang an einem Baum aufgehängt. Wie erträgt man so grausame Schilderungen? Wie verkraftet man sie? »In dem man dafür kämpft, dass sich so grausame Dinge weder im Sudan noch irgendwo sonst wiederholen«, sagt Schäfer.
Eine der wichtigsten Aufgaben einer Ländergruppe ist es, anderen lokalen Gruppen amnesty internationals mit Informationen und Tipps zur Seite zu stehen. In Deutschland sind es derzeit 12, die hauptsächlich zum Sudan arbeiten. Wie heißt eigentlich der Justizminister im Sudan? Gilt die Scharia auch im Süden? Können Tausende von Postkarten aus Deutschland einem politischen Gefangenen nützen? Haben Mitglieder der Opposition Chancen auf Anerkennung als Asylbewerber? Bei Fragen wie diesen wenden sich ai-Mitglieder an »ihre« Ländergruppe - und erwarten eine ebenso schnelle wie sachkundige Antwort.
Auch andere wenden sich mit Fragen zum Sudan an die Bielefelder - etwa Journalisten, Mitglieder des Menschenrechtsausschusses im Deutschen Bundestag, andere Politiker, Referenten in den Ministerien, in Stiftungen, in anderen nichtstaatlichen Organisationen. »Und natürlich wenden wir uns umgekehrt mit unseren Anliegen auch immer wieder an sie«, erklärt Schäfer. Gemeinsamkeit macht auch und gerade in Menschenrechtsanliegen stark.
Etwa 45 Minuten dauert nun schon das Gespräch, da klingelt plötzlich das Telefon. Pfarrer Peter Schäfer wird gebeten, schnell zum Krankenhaus Gilead zu kommen. Eine Patientin liegt im Sterben. »Entschuldigen Sie«, sagt er Achsel zuckend. »Aber in diesem Fall hat die seelsorgerische Aufgabe mal Vorrang.«

Artikel vom 22.12.2004