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Eine einnehmende und beglückende Einstimmung

Weihnachtsoratorium in der Neustadt setzt Maßstäbe

Von Uta Jostwerner
Bielefeld (WB). Ist das Aufgebot an Aufführungen des Weihnachtsoratoriums von Johann Sebastian Bach nach wie vor groß, so zeichnet sich in diesem Jahr zusätzlich ein Hang zur Vollständigkeit ab. Auch an der Neustädter Marienkirche konnte man am vierten Advent sämtliche sechs Kantaten in einem Rutsch hören. Dass es die ersten drei, für die Weihnachtstage komponierten Kantaten ebenso gut tun, stellte die Marienkantorei unter Ruth M. Seiler am Abend zuvor eindrucksvoll unter Beweis.
Erzielte mit bestens aufgestellter Mannschaft eine durchweg einnehmende Wirkung: Ruth M. Seiler.
In ihrer musikalisch-stilistischen wie inhaltlichen Werkdurchdringung erzielt die Kantorin der Neustädter Marienkirche mit bestens aufgestellter und einstudierter Mannschaft eine durchweg einnehmende Wirkung -Êin und zwischen den Eckpunkten von Geburtsjubel und Friedenswunsch. So spannungsvoll musiziert, dass Staunen und Beglückung über die Dauer von eineinhalb Stunden Hand in Hand gehen.
Worin nun liegt das Maßstäbe setzende Erfolgsrezept? Da wäre zunächst die kleine, mit professionellen Instrumentalisten besetzte Camerata St. Mariae rund um die »philharmonische« Konzertmeisterin Ursula Esch zu nennen. Mit Minimalbesetzung wird hier große Wirkung erzielt. Zum einen, weil die hallige Akustik klangverstärkende Folgen zeigt, zum anderen, weil mit animiertem, kammermusikalischem Zugang aufgespielt und solistisch brilliert wird. Pars pro toto sei die wunderbar bewegliche, strahlkräftige Solotrompete genannt, mit einer makellosen und geschmeidigen Tongebung wie man sie nur selten erlebt.
Seiler lässt die Partitur mit rhythmisch pointiertem Schwung beleben -Êauffallend im wogenden Duktus der Sinfonia -Ê, ihre Tempi wirken zudem frisch und zügig. Ein Eindruck, den der kontrollierende Blick auf die Uhr indes revidiert, da die Kantaten insgesamt in einem durchschnittlichen Zeitmaß, dafür aber mit sehr differenzierten Tempi erklingen.
Der nuancierten Partiturausleuchtung begegnet die Marienkantorei mit wunderbarer Stimmbeweglichkeit und -transparenz, mit Reaktionsschnelligkeit und Artikulationsschärfe. Choräle werden in enger Anlehnung an den Text- und Stimmungsgehalt präsentiert, teils mit lautmalender Klanggebung unterlegt (Brich an, du schönes Morgenlicht). Und in den zum Teil halsbrecherischen, melismatischen Chören bleibt den Sängern und Sängerinnen noch genügend Spielraum, um pointiert gestaltend ein- und mitzuwirken (»Ehre sei Gott« oder »Herrscher des Himmels«).
Eine weitere, profilgebende Säule im beglückend dargebotenen Werkeaufriss stellten die Gesangssolisten dar. Niels Kruse zeichnet sich als Evangelist mit einer Art von theologisch-theatralisch inspiriert wirkender Verkündungslaune aus.
Sopranistin Melanie Kreuter bringt Klangfarbenreichtum und Gabe zur innigen Versenkung ein. Beate Westerkamp verfügt nicht nur über ein ungemein angenehmes Timbre, sie hat auch Gestaltkraft und langen Atem, um die »Schlafe«-Arie mit süßer Sinnlichkeit zu würzen. Engagiert und mit beweglicher Basskoloratur, vielleicht nicht immer ganz textsicher, fügte sich Denis Combe-Castel in eine Werkwiedergabe ein, mit der an der Neustädter Marienkirche im vorweihnachtlichen Konzerte-Karussell Maßstäbe gesetzt wurden.
Künftige Aufführungen des Bachschen Weihnachtsoratoriums werden sich daran messen lassen müssen.

Artikel vom 20.12.2004