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Überzeugen Sie sich selbst. Ich nehme mir gern die Zeit, um auch über die praktischen Fragen mit Ihnen zu sprechen. Ich denke, daß Sie das Resultat meiner mehrmonatigen Feinarbeit begeistern könnte; ich sage das nicht, um meinen Einsatz hervorzuheben, sondern angesichts vieler Einzelheiten, die ans Licht gekommen sind. Ich würde mich deshalb freuen, wenn Sie mich hier besuchen können. Wenn Sie bald kommen, sehen Sie die freigelegte Malerei noch ohne Retuschen.Und bitte bringen Sie die neuesten Aufnahmen Ihrer Kopie der ÝEierköchinÜ mit. Ich bin in höchstem Maß gespannt, was aus Ihrer so hoffnungsvoll begonnenen Kopie geworden ist. Ihre erste Dokumentation sah beeindruckend aus.
Velázquez erscheint mir nach meiner tagtäglichen Bemühung um seine Malerei ganz nahe. Vielleicht geht es Ihnen ähnlich nach dem, was die Aufnahmen Ihrer Galeriekopie verraten. Also lassen Sie von sich hören!
Ihr H. R.

Das war eine wirklich gute Nachricht. Schon seit seinem ersten Besuch im Atelier der National Gallery hatte Duncan das Gefühl gewonnen, dass diese Wiedergeburt von Velázquez auch seine Sache war. Es war für ihn eine Bestätigung und machte ihn zugleich stolz, dass der Meisterrestaurator ihn so in seine Arbeit einbezog und auf sein Urteil Wert legte. Er nahm sich vor, gleich am nächsten Morgen zu telefonieren und in den nächsten Tagen nach London zu reisen.

London lag in einem milden Morgennebel, der sich langsam hob und Strahlenbündel der sich mehr und mehr durchkämpfenden Sonne hindurchließ. Im Atelier in der National Gallery herrschte ein silbriges Licht. In einem dunkelgrünen Kostüm stand Delia kokett neben der Leinwand der ÝRokeby-VenusÜ und blickte auf den schlaksigen Besucher, der sich wenige Meter vor ihr auf einem Hocker niedergelassen hatte und mit einer Hand seine Augen bedeckt hielt.
»Jetzt kannst du die Hand runternehmen«, erlaubte sie Duncan, der gespannt zwischen seiner lachenden Geliebten und dem Gemälde auf der Staffelei hin- und herschaute. Sie war zur Seite getreten, sodass sein Blick die gesamte Bildfläche erfassen konnte.
Es war ein überwältigender Eindruck, der von einer blütenhaft lichten Rückenfigur beherrscht wurde. Noch nie vorher war ihm aufgefallen, wie groß die liegende Venus tatsächlich war. Wenn er sie mit den Maßen des schlanken Amorknaben verglich, war offensichtlich, dass der Maler die Figur lebensgroß wiedergegeben hatte. Gemessen an der liegenden Venus auf dem Bild wirkte die eher zierliche Delia noch kleiner - aber dafür körperlich überaus präsent.
»Meine Venus!«, sagte Duncan.
Delia lächelte, als er aufstand, und sie in seine Arme nahm. Sie ließ dies nur einen kurzen Moment zu, dann entwand sie sich ihm und schob ihn auf den Hocker zurück.
»Nimm dir besser erst die flache Venus vor É«, sagte sie spöttisch.
Duncan ließ sich auf den Hocker fallen und hielt Delia dabei um die Hüfte gefasst. »Ach, die läuft mir nicht davon. Du dagegen É«
»Bitte!« Energisch schob sie seinen Arm zur Seite. »Konzentrier dich auf das Bild!«
»Meinst du, wir würden auch so ähnlich aussehen? Du als Venus so auf der Bettdecke É«
»Pssst!«
»É und ich als großer Amor vor dir kniend«, zwinkerte Duncan.
Delia versuchte vergebens, ihr Lachen zu unterdrücken. »Das wäre ein Bild für die Götter! Velázquez hätte gewaltig nach oben anstücken müssen! Abgesehen davon, dass du nicht lange stillhalten würdest.«
»Das fällt mir ja jetzt schon schwer«, sagte Duncan.
»Gleich kommt Mr. Ruhemann, und da solltest du dich nicht als liebestrunkener Knabe zeigen.« Mit diesen Worten küsste sie ihn auf die Stirn und eilte zur Tür.
Das Gemälde war viel aufregender, als die Fotos erahnen ließen. Man konnte es als Dokument einer bewegten Bildgeschichte sehen, indem man die Schnitte und Problemstellen beachtete. Oder man konnte sich seiner bisher unvorstellbaren Gesamtwirkung hingeben. Zwischen diesen beiden Einstellungen pendelte sein Auge, bis er aufstand und ganz nahe an die Bildfläche heranging.
Jetzt sind alle Verfinsterungen abgenommen, und schon kann sich niemand mehr genau erinnern, wie der Eindruck vorher war, musste er unwillkürlich denken. Nur mit den Dokumentationsaufnahmen läßt sich noch klarmachen, dass es hier nicht nur um einen dünnen Grauschleier ging, sondern um ganze Schichten von Schmutz und verbräuntem Firnis. Dass stark verfärbte Farbretuschen wie ein Muster von dunklen Flecken ganze Bildpartien störten und Pigment-Beimengungen die alten Firnisse zusätzlich trübten. Durch so etwas hindurch war kein Gelb von einem Weiß und kein Grün von einem Blau zu unterscheiden gewesen. Vor allem hatte sich niemand das kühle Blaugrau der Bettdecke vorstellen können, die jetzt mit dem Hautton der Liegenden kontrastierte.
»Na, was sagen Sie nun?«, kam Ruhemanns voll klingende Stimme von der Tür her. »Haben Sie sich unsere Lady so vorgestellt?«
Duncan wandte sich um und ging dem Restaurator entgegen: »Ich habe den größten Respekt vor Ihnen und gratuliere Ihnen sehr. Auch im Namen des großen Meisters Velázquez, wenn ich es wagen darf, mich zu seinem Sprecher zu machen.«
Der alte Herr legte die Hand auf Duncans Schulter. Er war sichtlich bewegt, als er entgegnete: »Dieses Ergebnis konnte niemand erwarten. Welche Ausnahme es bedeutet, wenn die Farbschicht und der Farbton in so hohem Umfang erhalten sind und wenn diese sich von späteren Zutaten so weitgehend lösen lassen, weiß kaum jemand. Das kann nur ermessen, wer die Schicksale vieler anderer Malereien kennt. Glauben Sie mir, es ist wie bei einem Stück von Shakespeare oder bei den Opern des 18. Jahrhunderts: Wenn die wichtigsten Rollentexte oder die Noten für die einzelnen Instrumente auf einmal alle im Original vorhanden und klar lesbar sind, dann ist das ein wahres Wunder. Und fast immer haben diese Einzelheiten dann auch eine besondere Qualität.«
Duncan wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Gemälde auf der Staffelei zu. Die Farben leuchteten im Halbdunkel des Raumes, als wären sie frisch. »Es ist ein Wunder, wie deutlich auf einmal alle Partien erscheinen!«
»Die Klarheit des Befundes ist ein hoher Wert. Für die Optik, für das inhaltliche Verständnis, aber auch materiell. Immer wieder habe ich mich besorgt gefragt, ob die Farbschicht nicht doch bei der Reinigung angegriffen oder durch die von mir eingesetzten Lösungsmittel angeweicht wurde.« Ruhemann trat auf das Bild zu und legte die Hand auf den roten Vorhang des Hintergrunds. »Das ist die gefährdetste Zone, weil dort schon frühere Reinigungen die Farbe ausgedünnt haben und natürlich Retuschen daraufgemalt waren. Aber um jedes Risiko zu vermeiden, habe ich lange Trockenpausen eingelegt.«
Duncan war ihm gefolgt und bückte sich, bis er mit der Nasenspitze fast an die harte Paste der Pinselstreifen anstieß, welche die Schulterblätter der Venus modellierten. »Wenn man gründlich bis in die feinsten Schmutzrillen hinein reinigt, dann will man doch wirklich an die Haut des Originals. Und entweder müssen Sie mit physischer Kraft oder mit der Reinigungslösung die Schmutzreste bewegen. Wozu dann noch Trockenpausen?«
»An den hellen Stellen und über einer so steinhart gewordenen Farbe mit hohem Bleiweißanteil ist immer klar erkennbar, was sich tut. Aber auf den braunen und roten Tönen sieht es anders aus«, meinte Ruhemann und hob einen dicken Aktenordner vom Boden hoch. Er hielt ihn Duncan hin: »Durch meine genaue Dokumentation jedes einzelnen Schrittes bin ich gegen die Kritik in der Öffentlichkeit gerüstet.«
»Sie haben sicher recht, hier jeden Schritt nachzuweisen. Bei Kunst reden nicht nur die Profis mit«, pflichtete Duncan ihm bei.
»Von wegen ÝProfisÜ! Das sind die Wenigsten. Und die anderen geniert ihre völlige Unkenntnis überhaupt nicht. Umso unbefangener versuchen einige, meine fachliche Kompetenz infrage zu stellen. ÝWie können Sie denn die Grenze zwischen der originalen Malfarbe von Velázquez und den später aufgelegten Schichten bestimmen?Ü hat mich heute Vormittag der Kunstkritiker des Daily Telegraph am Telefon gefragt. ÝWoher wissen Sie, dass die von Ihnen abgenommenen angeblichen Retuschen nicht original sind?Ü«
Ruhemann gab dies mit erhobener Stimme als Frage an Duncan weiter, der einen Schritt zurückwich.
»Wahrscheinlich war der Journalist von irgendjemandem vorher aufgehetzt worden und wollte zu gern einen Horrorbericht schreiben. Was haben Sie ihm gesagt?«
Ruhemann war in Rage: »So etwas ist die Vertrauensfrage an den Restaurator.« Er zögerte und donnerte los: »Wäre ich ein unerfahrener Stümper, dann und nur dann wären solche Fragen berechtigt! Das wertvolle Kunstgut wäre auf Gedeih und Verderb einem Experiment ausgeliefert!«
In leiserer Tonart fuhr Ruhemann fort: »Ich habe dem Journalisten erklärt, dass sich unter ultraviolettem Licht alle älteren Firnisse an ihrer Fluoreszenz erkennen ließen und dass unter dem Stereomikroskop immer wieder die einzelnen Farblagen kontrollierbar seien. Man kann also spätere Aufmalungen deutlich unterscheiden.«
Er drehte sich zu seinem Arbeitstisch und zeigte auf eine Batterie von kleinen Gläschen und auf schmale, durch Klebestreifen zusammengehaltene Glasplättchen. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 23.12.2004