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Ruhemann hatte ihm nur den unwiederbringlichen Verlust bestätigen können. Manche Farben verändern sich über die Jahrhunderte im Licht erheblich: Grün verbläut, Rot- und Brauntöne bleichen, leuchtendes Blau wird stumpf und matt. Kann man diese ursprünglichen Farben nicht insgesamt wieder herausholen? Das müsste ein großes Erlebnis sein, hatte Duncan in einem Brief geschrieben. Er hatte ihm nur zurückschreiben können: Davon haben viele schon geträumt. Aber vorbei ist vorbei. Und deswegen ist es ein so großes Wunder, wenn seltenerweise eine solche einheitliche Farbfrische herauskommt wie bei unserer Venus.
»Jetzt ist sie ganz nackt - und so schlackenlos schön, dass man fast die weißen Kittstellen vergisst«, sagte er leise. Wie lange hatte niemand mehr dieses Zauberwerk in seiner duftigen Helligkeit gesehen? Das war fast schon eine wissenschaftliche Frage. Aber angesichts der Poesie des Anblicks war ihm nicht nach Wissenschaft zumute.
»Stirb und werde!«, äußerte er ganz versonnen das alte Goethe-Wort. »Hier stimmt dieser Spruch.«
Ein wenig zögerlich, als müsse er dabei die Grenze der Schamhaftigkeit überschreiten, ging er an die Schublade mit seiner Fotoausrüstung, um die in den letzten Tagen freigelegten Partien genau zu dokumentieren.

Edinburgh, September 1964
E
s war ein regnerischer Spätnachmittag, an dem Duncan Munro ermüdet in sein kleines Appartement am Charlotte Square im Zentrum von Edinburgh zurückkehrte. Seine Windjacke tropfte, und an seinen Schuhsohlen klebten noch Fetzen von dem rostroten Laub, das dicht gestreut wie ein feuchter Teppich den Bürgersteig bedeckte. Er hatte mit Galeristen verhandelt, einen Vortrag über Restaurierungsfragen besucht und war für den heutigen Tag auf keine großen Erlebnisse mehr eingestellt. Seine Kopie nach VelázquezÕ Eierköchin hatte er vor drei Wochen beendet und war mit Ausnahme einiger unregelmäßiger Glanzeffekte auf der Bildoberfläche recht zufrieden mit dem Ergebnis. Jetzt war auch die Trocknungszeit abgeschlossen, sodass er sein Werk demnächst abliefern konnte. Nur noch etwas besseres Wetter wollte er abwarten.
Die schwere Haustür krachte ins Schloss, und Duncan öffnete seinen Briefkasten, aus dem ihm ein schwerer Umschlag entgegenfiel. Sein Herz schlug höher, als er National Gallery, London und Restoration Department las. Wäre nicht seine Kleidung nass und klebrig gewesen, hätte er vor Neugier an Ort und Stelle das Kuvert aufgerissen.
So eilte er das Treppenhaus hinauf, legte seine nasse Jacke ab und stürzte an seinen Schreibtisch, um in der Helle der Tischleuchte die inhaltsreiche Sendung zu studieren. Ruhemanns handgeschriebener Brief bestätigte, dass Duncans Fotos der ersten Kopiestadien bei ihm angekommen waren. Einige Zeitungsausschnitte zur Restaurierung der Venus waren in Ablichtungen beigelegt. Aber die wichtigste Teil der Sendung bestand aus einem Packen hervorragender Fotos, die Duncan erst flink durchstöberte, um sie dann eines nach dem anderen gründlich zu inspizieren. Er wusste, dass er heute nichts und niemanden mehr brauchte; die nächsten Stunden würden mit der genauen Sichtung dieses Materials mehr als ausgefüllt sein.
Aber bevor er dazu kam, die anderen Lichter anzumachen und sich gegen Hunger und Durst mit ein paar Leckerbissen aus dem Kühlschrank zu versorgen, rutschte ihm aus dem Fotopacken ein zartblaues Briefchen entgegen. Seine Hände zitterten beim hastigen Aufreißen - er hätte sich selbst so nervöse Reaktionen nicht zugetraut -, und er las:

Lieber Raffael,
wie mag es dir gehen? Ich habe mich an unsere Verabredung gehalten, nichts zu tun, was das Schicksal herausfordern könnte. War es gut so? Ein bisschen schwer gefallen ist es mir anfangs. Du hast mich ganz schön verwirrt. Aber jetzt genieße ich meine abwechslungsreiche Arbeit und den aufregenden täglichen Betrieb hier in unserem Department. Ich habe deine Briefe an Mr. Ruhemann mitgelesen, wenn ich die Post einsortiert habe. Drei von deinen Blumen habe ich im Büro ganz lange aufgehoben, bis sie völlig vertrocknet waren. Den großen Strauß zu Hause - er war wunderbar - habe ich leider bald wegschaffen müssen; du kannst dir denken, weshalb.
Und jetzt schreibe ich an den allertalentiertesten Nachwuchsfachmann für Velázquez - das darf ich doch so sagen? Ruhemann ist fertig mit dem Reinigen, und wir haben hier immerzu Besuch von wichtigen Experten. Eigentlich könntest du auch hierher kommen. Wäre das kein Grund? Ruhemann würde sich sicher darüber freuen. Und ich mich auch. Du kannst mir die Fotos von deinem Meisterwerk zeigen, das ich gern sehen und bewundern würde. Am liebsten wäre es mir aber, du könntest bei mir sein. Die Nächte ohne dich sind schwarz und leer. Ich habe große Sehnsucht nach dir. Die nächsten beiden Wochen bin ich wieder allein. Wir hätten viel Zeit füreinander. Versuche, deinen Terminkalender so einzurichten! Freust du dich? Schreibe mir, wann du nach London kommen kannst.
Ich hoffe, die Tage fliegen. Auf eine baldige Nachricht aus dem fernen Schottland freut sich
Deine Delia.

In Miniaturschrift stand am Rand noch:
P.S. Ich möchte dir eine Abbildung von einem aufregenden Bild zeigen, die ich für dich aufgehoben habe. Aber nichts von Henri Gervex, sondern viel älter und geheimnisvoller.
Duncans inneres Auge war voller Bilder und seine Brust voller verwirrender Gefühle. Er sah sich schon im Zug sitzen und an seinem Fenster die hügeligen Landschaften Englands vorbeiziehen. London: die Stadt, die Straßen, die Bilder. Ruhemann, der mit ausgestreckter Hand auf ihn zu kam und ihn vor das hell erstrahlende Venusbild führte. Und dann Delia und noch einmal Delia, in ihrem Büro und so wie er sie von dem aufregenden letzten Abend im Gedächtnis behalten hatte. Liebe Delia, du wunderbare Frau! Und die völlig freigelegte ÝRokeby-VenusÜ! Ruhemann würde sich vermutlich in den nächsten Wochen an die Retuschen machen und dem Bildeindruck zu makelloser Geschlossenheit verhelfen. Auch das musste ein großes Erlebnis sein. Aber jetzt war der einmalige Moment, ungeschminkt die Bildsubstanz zu sehen, Velázquez pur!
Und warum nicht noch einmal die berauschende Delia pur? »Ach, Delia, aufregende Delia! Verführerisch und hinreißend É«, sagte er leise zu sich selbst. »Leider mit einem Mann zu Hause! Doch warum sollte ich dich nicht noch einmal lieben?«
Draußen war es inzwischen dunkel geworden. Duncan hatte es sich auf seiner Couch so eingerichtet, dass er trotz seiner hochgelegten Beine bequem mit der linken Hand an die Bücher, Briefe und Fotos auf dem Teetisch herankam und mit der rechten seinen Sandwichteller und ein Rotweinglas in Reichweite hatte. Im Lichtkreis seiner Stehlampe konnte er nun die Detailaufnahmen des von Ruhemann gereinigten Bildes studieren. Und wenn er sie beiseite legte und in langsamen Schlucken den schweren, fruchtigen Wein genoss, das Wohlgefühl des Aromas auf Zunge, Gaumen und im ganzen Mundraum auskostend, musste er immer wieder an Delia denken.
Aber nicht weniger schlug ihn das in Bann, was sich auf den Detailaufnahmen an merkwürdigen Einzelheiten fand. Auf den Fotos sah man schemenhaft einen ersten Bildzustand durchschimmern, der ganz anders war als die jetzige Bildoberfläche. Ruhemann hatte dazu auch noch einige Bleistiftnotizen auf die Fotorückseiten geschrieben, die Duncan mit dem verglich, was er erkennen konnte. Jedenfalls war deutlich zu sehen, dass der Kopf der jungen Frau erst im Profil ausgeführt war - und zwar so, dass man sie regelrecht erkennen konnte! Und auch ihre Oberkörperhaltung musste anders gewesen sein. Der rechte Arm war umplatziert; er war ursprünglich höher aufgestützt gewesen. Das Spiegelbild des Gesichts war ebenfalls umgearbeitet worden. Die Leinwandnaht, die quer durch das Bild ging und oberhalb des Kopfes verlief, war nicht ganz eindeutig: War das eine Webnaht, die sich vor Beginn der Malerei ergeben hatte, oder war die Venus erst allein auf dem Bild gewesen und hatte den Amorbuben samt Spiegel erst später hinzugesetzt bekommen? Es war spannender als jedes Kriminalstück, was sich hier abzeichnete.
Schließlich war Duncans erste Neugier gestillt, und er konnte sich mit voller Konzentration dem widmen, was Ruhemann ihm geschrieben hatte. Die gestochen klare und gleichmäßige Schrift spiegelte etwas von der Verbindung von Künstlertum und wissenschaftlicher Akribie, die den alten Herrn auszeichnete. Sie verriet im Stil der lateinischen Buchstaben die deutsche Herkunft des Schreibers:

Lieber junger Freund!
Endlich komme ich dazu, auf Ihren Brief zu antworten. Hinter mir liegt die mühselige Arbeit der Reinigung des Venusbildes von Velázquez, an deren erster Etappe Sie so großen Anteil genommen haben. Vieles, was sich damals abzeichnete, hat sich im Gesamtergebnis bestätigt.
Daß ein so unvermutet frisches Bild herausgekommen und daß hier so etwas wie die Wiederentdeckung eines großen Werks der Malereigeschichte gelungen ist, das wird mir deutlich von neidlosen Kollegen bestätigt, und das berührt mich sehr. Umgekehrt gibt es Stimmen, die so einen Erfolg nicht wahrhaben wollen. Sie registrieren nur das ungewohnte Erscheinungsbild, wollen oder können aber nicht die herrliche Qualität würdigen, die damit zutage getreten ist. Die Veränderung von VelázquezÕ Gemälde wird von ihnen nur als technische Maßnahme diskutiert. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 22.12.2004