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Das Wort zum Sonntag

Von Pfarrer Dr. Dr. Markus Jacobs


Eines meiner liebsten Adventsbilder stammt nicht aus der Bibel. Es rührt aus einem Erlebnis, das ich zwar nicht selbst hatte, das ich mir aber so bildhaft vorstellen kann, als wenn es mir selbst widerfahren wäre. Leider habe ich auch den eigentlichen Verfasser vergessen. Seine Erzählung lautet jedoch folgendermaßen:
»Bitte warten Sie hier! sagte ich zu dem Blinden und ließ ihn an einer verkehrsgeschützten Ecke des Großstadtbahnhofs allein. Ich wollte ihm das Gewühl ersparen auf dem Weg zum Schalter, zur Auskunft, zur Fahrplantafel und zur Post. Zurückkehrend sah ich ihn schon von weitem stehen, während die Menschen an ihm vorbeihetzten, ein Kind ihn anstarrte, ein Gepäckkarren einen Bogen um ihn fuhr und ein Zeitungsverkäufer nach einem irrtümlichen und vergeblichen Angebot fast scheu wieder von ihm wegging. Er stand ganz still, der Blinde, und auch ich musste ein paar Augenblicke stehen bleiben. Ich musste sein Gesicht ansehen. Die Schritte um ihn her und die unbekannten Stimmen und all die Geräusche eines lebhaften Verkehrs, die schienen für ihn keine Bedeutung zu haben. Er wartete. Es war ein ganz geduldiges, vertrauendes und gesammeltes Warten. Es war kein Zweifel auf dem Gesicht, dass ich etwa nicht wiederkommen könnte. Es war ein wunderbarer Schein der Vorfreude darin: er würde bestimmt wieder bei der Hand genommen werden. Ich kam nur langsam los vom Anblick dieses eindrucksvoll wartenden Gesichtes mit den geschlossenen Lidern; dann wusste ich auf einmal: So musste eigentlich das Adventsgesicht der Christen aussehen!«
Ein solches still wartendes Gesicht kann sich jeder vorstellen, der einmal einem Blinden zugesehen hat. Das Bild eines wartenden Blinden strahlt tatsächlich eine ganz eigentümliche Sammlung aus. Die fehlende Sehfähigkeit führt offensichtlich zur Ausbildung anderer Fähigkeiten.
Wenn ich die vorweihnachtliche Eile betrachte, beschleicht mich immer der Zweifel, ob sie dem Fest der Geburt Gottes angemessen ist. Wenn ich dann noch die unendlich vielen Lichtreize auf mich wirken lasse, denen unsere Augen ausgesetzt sind, so ist die Frage berechtigt: Sieht ein Blinder nicht vielleicht mehr?
Ich ertappe mich selbst dabei, dass ich in letzter Zeit immer öfter dazu neige, tagsüber zwischendurch einmal die Augen zu schließen. Dies ist Erholung für meine Augen. Es ist innere Reinigung von Eindrücken. Ich muss nicht alles sehen, was geschieht oder sich regt - nicht bei den Reklamen in den Straßen, aber auch nicht beim Gottesdienst in der Kirche. Statt dessen wächst dann die Sammlung von innen. Und in einer solchen Sammlung würde ich gerne das Fest der Geburt Christi erwarten - wie der Blinde in der Bahnhofshalle.
Gott kommt bestimmt! Er war schon einmal gekommen, und es wäre eigentlich Advent genug, wenn wir nur in die Wirklichkeit hineinlauschten, um zu wissen, wie er sich wieder nähert. Unser Advent stattdessen ist Aktionsprogramm.
Ich wünsche mir nicht Blindheit - das wäre vermessen und selbstzerstörerisch. Aber ich wünsche mir und allen heutigen Christen ein Adventsgesicht. Dafür kann ich wenigstens ab und an die Augen schließen, wenn es gerade wieder besonders betriebsam und eilig um mich herum wird. Auch wenn sie mich anstarren werdenÉ - Was hindert mich, mir vorzustellen, ich würde hier an dieser Stelle von Jesus wieder abgeholt? Ich würde auf die Geräusche um mich herum achten und hoffen, dass irgendwann ein Schritt sich nähert und eine Stimme erklingt, die zu diesem Mensch gewordenen Gott gehören.

Artikel vom 18.12.2004