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Europa

EU stellt sich neuen Herausforderungen

Für den Vorsitzenden des außenpolitischen Ausschusses des Europaparlaments, den Bielefelder Europaabgeordneten Elmar Brok, ist der 29. Oktober 2004 der wichtigste Tag seines politischen Lebens. An diesem Tag wurde in Rom an historischer Stelle, im Kapitolspalast, die Verfassung der Europäischen Union unterschrieben.


Doch auch für Europa war dieser 29. Oktober ein ungeheuer wichtiger Tag. Brok, der an der Verfassung mitarbeitete: »Das ist nicht mehr nur irgendein völkerrechtlicher Vertrag, sondern hier gibt sich ein Kontinent eine gemeinsame Verfassung mit gemeinsamen Werten.« Europa wurde wiedervereinigt.
Rückblickend auf das vergangene Jahr findet nicht nur der 29. Oktober Eingang in die Geschichtsbücher. Das Jahr war gespickt mit historischen Ereignissen, die Frieden, Freiheit und Wohlstand in Europa sichern sollen. Der Grundstein hierfür ist gelegt worden, Zuversicht ist angebracht, doch im Ausblick nach vorn türmt sich noch so manches Hindernis auf, das überwunden werden muss.
Aber blicken wir zunächst noch einmal zurück. Am 1. Mai hatte Europa allen Grund zum Feiern. Mit dem Beitritt von zehn neuen Ländern wird die umfangreichste Erweiterung der EU Wirklichkeit. Mit 455 Millionen Einwohnern wird die EU damit deutlich größer als beispielsweise die USA. Der Weg dahin war nicht immer einfach, bis zuletzt hatte es noch ein Tauziehen zwischen Nettozahlern, Nettoempfängern, neuen und alten Mitgliedern gegeben.
Und mitten in die letzten Streitigkeiten platzten die verheerenden Anschläge von Madrid - der Terror war endgültig in Europa angekommen. Überschattet wurde die Erweiterung, die vor allem in den neuen Ländern überschwänglich gefeiert wurde, im letzten Moment noch dadurch, dass Zypern geteilt bleibt. Der UN-Plan zur Wiedervereinigung scheitert eine Woche vor der Erweiterung in einem Referendum.
Problemlos ging im Juni die Wahl zum Europäischen Parlament über die Bühne, wenn auch mit enttäuschender Wahlbeteiligung. Erstmals in der Geschichte Europas wählen 350 Millionen Europäer in 25 Mitgliedstaaten in freier Wahl ihre Vertreter für das gemeinsame Parlament.
Weniger problemlos wurde schließlich die Ernennung der neuen EU-Kommission mit ihren Präsidenten José Manuel Barroso an der Spitze vollzogen. Nur zwei Tage vor der feierlichen Unterzeichnung der Verfassung muss Barroso seine Kommission zurückziehen, um eine Ablehnung durch das Parlament zu vermeiden. Auch ein historischer Vorgang: Das Parlament übt nicht nur Kritik, das Parlament setzt seine Rechte ein. Zum ersten Mal wird für die Europäer klar, warum auch die Wahlberechtigten ihre Stimme abgeben. Das war ein guter Tag für Europa: Das Europaparlament wurde gestärkt, hat sich Respekt verschafft. Verlierer sind eindeutig die Regierungschefs der Mitgliedsländer. Nach diesem Tritt vors Schienenbein müssen sie beim nächsten Mal besser darauf achten, nur Personal nach Europa zu schicken, das fachlich und politisch überzeugt.
Europa will in Zukunft mehr weltpolitische Verantwortung übernehmen. Das hat die EU in den beiden letzten Monaten bewiesen. Im November vermittelten EU-Außenbeauftragter Javier Solana und eine Delegation des Europaparlaments in der krisengeschüttelten Ukraine und verhindern dort ein Abrutschen des Landes in einen Bürgerkrieg. Und am 2. Dezember übernahm die EU das Kommando für den Friedenseinsatz in Bosnien-Herzegowina. Zehn Jahre nach dem diplomatisch-militärischen Versagen auf dem Balkan übernimmt in Bosnien-Herzegowina die EU die erste Militärmission unter ihrem Kommando.
Insgesamt ein erfreuliches Jahr 2004 für die Europäische Union, doch vor der Staatengemeinschaft liegen im kommenden und in den nächsten Jahren noch große Herausforderungen - Rückschläge nicht ausgeschlossen. Erst die kommenden Jahre werden zeigen, ob die EU mit den neuen Mitgliedern wirklich eine Union wird. Und es ist längst noch nicht abgemacht, dass die Verfassung auch in allen Ländern ratifiziert wird. Beim Blick über die nicht mehr vorhandenen Ländergrenzen sind Zweifel erlaubt.
Die riskanteste Entscheidung für die Zukunft der Europäischen Union haben die Staats- und Regierungschefs aber noch kurz vor Jahresschluss getroffen. Grundsätzlich haben sie mit »ja« die Frage beantwortet, ob die Türkei zu Europa passt.
Zwar hat der Europäische Rat bei seinem Beschluss über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen lange Übergangsfristen und ein Aussetzen der Verhandlungen bei mangelndem Fortschritt in Menschenrechtsfragen vereinbart. Doch die berechtigten Ängste sowohl in Bezug auf einen Rückschlag in der Westintegration der Türkei im Falle eines Scheiterns der Verhandlungen, als auch darin, dass ein Beitritt die EU finanziell und in ihrer politischen Bindekraft überfordern könnte, lassen sich nicht so einfach wie Silvesterraketen in den Himmel schießen.
Von den Befürwortern eines Türkei-Beitritts wird gern immer die ideale Brückenfunktion des Landes am Bosporus in die islamische Welt hervorgehoben. Das Gegenteil ist der Fall: Die Türkei wird von diesen Ländern geradezu mißtrauisch beäugt. Die besseren Beziehungen zu den islamischen Ländern pflegt die EU. Der bedeutende deutsche Historiker Professor Heinrich August Winkler, Mitglied der SPD, erklärt denn auch: »Aus historischen Gründen und auch aus anderen Gründen wird eine solche Wirkung von der Türkei, die ja Nachfolgerin des Osmanischen Reiches ist, niemals ausgehen können.«
Der Europapolitiker Elmar Brok lässt keine Zweifel an der strategischen Bedeutung, die die Türkei für die EU hat. Man müsse ihr zu mehr Demokratie verhelfen. Doch für ihn geht es auch darum, dass die Europäische Union als politische Einheit überlebt. So stellt Brok fest: »Wie kann man sagen, die Türkei muss auf jeden Fall aufgenommen werden, und die Ukraine kann auf keinen Fall aufgenommen werden?« Die Antwort könne nur lauten, dann müssen beide aufgenommen werden. Doch gerade dies werde die Europäische Union nicht stemmen können, ist sich der erfahrene Europa-Politiker sicher.
Broks Appell zum Jahreswechsel: »Lasst uns nach neuen Wegen suchen, die all diesen Ländern eine europäische Perspektive eröffnen und gleichzeitig die Europäische Union wachsen lassen.« Vorerst sieht es nicht danach aus, dass Europa diesen Weg doch noch einschlagen wird.

Ein Beitrag von
Dirk Schröder

Artikel vom 31.12.2004