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Leitartikel
Zum Schlagwort »Armut«

Bitte, mehr Maß und
Augenmaß!


Von Rolf Dressler
Selbstverliebt, wie der Mensch nun einmal ist, hält er sich für die Krone der Schöpfung. Und selbst all jene, die sonst an gar nichts glauben, erheben sich recht gern zum Maß aller Dinge, der irdischen zumindest.
Fortwährende Selbstüberhebung aber trübt nicht nur die sieben Sinne, also unsere wertvollen, naturgegebenen Wahrnehmungskäfte. Sie verführt zu Bruder-Leichtfuß-Allüren. Die Folgen sind fatal: Das Augenmaß geht verloren. Allzu flüchtig wischt man über verwickelte Ursachen und Wirkungen hinweg, pinselt sich selbst und gleich auch noch der ganzen Sechs-Milliarden-Menschheit grob schiefe Bilder zurecht, klotzt mit Pauschalierungen, die den tatsächlichen Wirklichkeiten oftmals schlicht hohnsprechen.
»Die Welt hat ihre Kinder vergessen!« So schlagzeilen-typisch beispielsweise betitelten zahlreiche Zeitungen in dieser Woche ihre Berichte über die Jahresbilanz 2004/2005 des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen, kurz UNICEF. Selbstverständlich soll und muss die Weltöffentlichkeit wieder und wieder gemahnt und aufgerüttelt werden. Denn jedes Neugeborene, jedes Kleinkind, jedes Kind, das Not und Hunger leidet, ist ein Menschenkind zu viel - genauso wie jeder Erwachsene auch, bis hin zum Greis, der ohne Hilfe und Fürsorge nicht einmal mehr den nächsten Tag erleben würde.
- 90 Millionen Kinder unter fünf Jahren sind laut UNICEF stark unterernährt, aber gottlob keines davon in Deutschland.
- Mindestens 400 Millionen haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser, dem Lebensquell Nummer 1, und einer halben Milliarde gar stehen nicht einmal allereinfachste Sanitäreinrichtungen zur Verfügung. Nichts Vergleichbares ist in Deutschland zu beklagen.
- 250 Millionen Kindern fehlt jedwede ärztliche Versorgung, keinem einzigem aber hier bei uns im gesegneten Europa. 2,2 Millionen starben binnen Jahresfrist, weil sie keine Schutzimpfungen bekommen konnten.
- Mehr als 121 Millionen Kinder zwischen sechs und elf Jahren haben noch keine einzige Unterrichtsstunde gehabt.
In Deutschland ist all dies unvorstellbar. Was aber erschüttert unsere hiesige, vergleichsweise fürstlich rundumgesicherte Versorgungsstaatswelt in ihren Grundfesten? »Hartz IV macht arme Schulkinder noch ärmer!« zürnt der Lehrer-Verband Bildung und Erziehung (VBE). Folgt der Schlagzeilen-Leser den stereotypen Alarmrufen der Kirchen, dann breiten sich Massen- und Kinderarmut angeblich beinahe schon wie die Pest über Deutschland aus. Ausgerechnet über das Land, das im Weltmaßstab noch immer steinreich ist, obwohl die Politiker das von den Bürgern hart erarbeitete wie auch das in absolut aben- teuerlicher Höhe geliehene Geld noch immer unverantwortlich loc- ker an alle Welt verteilen.
Armut anderswo und »Armut« hierzulande - dazwischen liegen wahrlich Welten. Beides auch nur annähernd gleichzusetzen, grenzt fast an Gotteslästerung.

Artikel vom 16.12.2004