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Nahost-Konflikt

»Historische Chance« zum
Frieden winkt

Nach dem Tod des Palästinenser-Präsidenten Jassir Arafat stehen Israelis und Palästinenser vor einem Neubeginn der festgefahrenen Friedensbemühungen. Israels Ministerpräsident Ariel Scharon sprach von einer »historischen Chance«, die sich für beide Völker auftue.


Nach dem Tod von Jassir Arafat, der am 11. November in einem Militärkrankenhaus bei Paris im Alter von 75 Jahren gestorben ist, wurden chaotische Zustände im Gaza-Streifen und im Westjordanland sowie ein Machtkampf in der Palästinenser-Führung befürchtet. Nichts davon ist eingetreten.
Die Palästinenser wählen am 9. Januar einen neuen Präsidenten. Aussichtsreichster Kandidat ist Mahmud Abbas, Nachfolger von Jassir Arafat als PLO-Vorsitzender, nachdem der populäre Marwan Barguti auf eine Kandidatur verzichtet hatte.
Abbas hat sich mehrfach für die Beendigung der Intifada - des Palästinenseraufstandes - ausgesprochen und zu friedlichen Mitteln im Kampf um einen unabhägigen Palästineser-Staat aufgerufen.
Auch Abbas fordert zwar das Rückkehrrecht für die Flüchtlinge und den Ostteil Jerusalems als Hauptstadt Palästinas. Alles auch Forderungren von Arafat. Bei Abbas darf man diese Äußerungen allerdings unter dem Stichwort Wahlkampf abhaken. Abbas ist nicht die Symbolfigur des Widerstands, wie es Arafat war. Er ist im Gegensatz zum verstorbenen Palästinenser-Präsidenten ein pragmatischer Politiker, der gegenüber Israel wohl »eine Politik des möglichen« verfolgen wird.
Der frühere israelische Außenminister Abba Eban sagte einmal über Arafat: »Er hat keine Chance ausgelassen, um die Chance zum Frieden zu verpassen.«
Abbas gegenüber steht Ariel Scharon, der sich mit einer neuen Regierungskoalition endgültig als Friedenspolitiker einen Platz in den Geschichtsbüchern sichern will. Er nahm den Bruch seiner konservativen Koalition in Kauf, in der er keine Mehrheit mehr für den Abzug der Israelis aus dem Gaza-Streifen und die Räumung von Siedlungen im Westjordanland hatte.
Zusammen mit Shimon Peres, dem großen alten Mann der Arbeitspartei, will er nun seinen Plan durchsetzen, den er verkündete, nachdem er Jassir Arafat zur »Unperson« erklärt hatte, die ein Hindernis für Friedensgespräche sei.
Bei allen Bemühungen um Frieden sind die Stoppschilder im Minenfeld der schwierigen israelisch-palästinensichen Beziehungen nicht zu übersehen.
Mahmud Abbas besteht darauf, dass eine Räumung des Gaza-Streifens nur ein erster Schritt hin zu einem vollständigen Rückzug der Israelis aus den besetzten Gebieten sein kann. Nur dann sei er zu Verhandlungen bereit.
Den kompletten Rückzug verlangt auch die so genannte »road map«, der gemeinsame Friedensplan der USA, der EU, Russlands und der UNO. Sowohl Palästinenser als auch die Regierung Scharon haben den Plan als Grundlage für eine Friedensvereinbarung akzeptiert.
Scharon seinerseits hält an einer Forderung eisern fest: Neue ernsthafte Gespräche seien allerdings nur nach einer Beendigung der Terrorangriffe durch radikale Palästinensergruppen möglich. Eine neue Palästinenserführung müsse diese Gruppierungen unter Kontrolle bringen und die Sicherheitsdienste neu organisieren.
Scharon braucht ein Ende des Terrors für seine politische Handlungsfähigkeit. Er muss befürchten, dass bei anhaltender Gewalt palästinensischer Terroristen der Widerstand gegen die Abzugspläne in seiner Likud-Partei wieder zunimmt. Dann wäre die Mehrheit der Koalition von Likud und Arbeitspartei im Parlament und damit die Realisierung seiner Abzugspläne erneut gefährdet.
Jassir Arafat hat sein Ziel nicht erreicht. Einen unabhängigen Staat konnte er nicht errichten. Er hinterlässt der neuen Palästinenser-Führung ein Gebiet, das nach der zweiten Intifada wirtschaftlich am Ende ist. Palästina braucht den Neuanfang in den Beziehungen zu Israel auch für die dringend notwendige wirtschaftliche Erholung.
Es gibt bereits Pläne, einen ernsthaften Neuanfang in den Friedensbemühungen im Nahen Osten finanziell massiv zu unterstützen.
Nach Informationen der »New York Times« sind die USA, europäische und arabische Staaten bereit, in den kommenden vier Jahren ein Programm im Umfang von bis zu acht Milliarden Dollar aufzulegen. Voraussetzung sei, dass eine neue Palästinenserführung nach den Wahlen am 9. Januar gegen den Terror vorgeht und Israel seine Besatzung lockert.
Angaben der Weltbank zufolge würde es sich bei dem Plan - pro Kopf gerechnet - um das umfangreichste Hilfsprogramm seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges handeln. Hilfe, die in den Palästinensergebieten dringend benötigt wird.
Zehntausende haben im Laufe der Palästinenser-Aufstände ihre Arbeit in Israel verloren. Den Zahlen der Weltbank zufolge ist das Bruttosozialprodukt seit dem Jahr 2000 um die Hälfte geschrumpft. Das Pro-Kopf-Einkommen liegt gerade einmal bei knapp 1000 US-Dollar pro Jahr. Etwa die Hälfte der 3,4 Millionen Palästinenser muss von weniger als zwei Dollar pro Tag leben. 40 Prozent der Menschen sind arbeitslos. Private Investoren werden allerdings erst dann ihr Geld in den Palästinensergebieten anlegen, wenn die Sicherheit gewährleistet ist.
In Israel, das ebenfalls wirtschaftlich unter den Auswirkungen der Intifada leidet, liegt das durchschnittliche Jahreseinkommen hingegen bei 19 000 Dollar.
Washington, London, Paris und die Bundesregierung versuchen derzeit, die Möglichkeiten auszuloten, um die »historische Chance« zum Neuanfang in Nahost zu nutzen. Ohne Hilfe und Druck von außen wird der Friedensprozess nach den Erfahrungen der Vergangenheit nicht wieder in Gang zu setzen sein. Vor zu großem Optimismus sollten sich alle Beteiligten jedoch hüten. Zu oft sind in der Vergangenheit die Hoffnungen der Menschen in Israel und Palästina enttäuscht worden.

Ein Beitrag von
Friedhelm Peiter

Artikel vom 31.12.2004