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Hartz IV

Die Angst vor Reform am Arbeitsmarkt treibt die Menschen auf die Straße

Die Arbeitsmarktreform »Hartz IV«, erst im Dezember zum Wort des Jahres gewählt, wird Anfang 2005 erst mal handfeste Negativ-Schlagzeilen produzieren. Das weiß die Bundesregierung. Überschriften wie »Fünf Millionen Arbeitslose in Deutschland« halten mehrere Wirtschaftsforschungsinstitute und Gewerkschaften für wahrscheinlich, die Union für sicher.


Aber: Das Reißen der psychologisch wichtigen Hürde ist auf rein statistische Gründe zurückzuführen, denn mit In-Kraft-Treten von Hartz IV könnten bis zu 380 000 erwerbsfähige Sozialhilfeempfänger mit einem Schlag von der Arbeitsmarktstatistik erfasst werden.
Wirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD) ist überzeugt, dass die Fünf-Millionen-Grenze nicht erreicht wird. Er setzt auf den Erfolg der Arbeitsmarktreform, bei der zum 1. Januar Arbeitslosen- und Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld II (ALG II) zusammengelegt werden. »Wenn Hartz IV richtig greift, dann wird man den Arbeitsmarkt im kommenden Jahr nicht mehr wiedererkennen.«
Er rechnet Ende 2005 mit etwa 200 000 Erwerbslosen weniger als im Dezember dieses Jahres. Im Jahresdurchschnitt soll die Zahl der Arbeitslosen um 25 000 niedriger sein als dieses Jahr.
Von konjunktureller Seite ist kurzfristig keine Schützenhilfe zu erwarten. Selbst bei der optimistischen Wachstumsprognose der Regierung von 1,7 Prozent dürften beschäftigungswirksame Effekte ausbleiben. Einer Faustregel zufolge entstehen erst bei einem Anstieg des Bruttoinlandsproduktes (BIP) um mindestens zwei Prozent auch neue Jobs. Der Sachverständigenrat erwartet 2005 sogar nur 1,4 Prozent Wachstum.
Das Münchner ifo Institut geht wie andere Experten davon aus, dass mit der Einführung des Arbeitslosengeldes II die Erwerbslosenzahl zum Jahresanfang noch einmal kräftig steigen wird; spätestens im Februar müsse mit fünf Millionen Erwerbslosen gerechnet werden, prognostizierte ifo-Chef Hans-Werner Sinn. Längerfristig werde die Reform aber positiv wirken. »Fünf Jahre wird man wohl warten müssen, bis die Effekte da sind.« Es müssten nun unter anderem flächendeckend Ein-Euro-Jobs angeboten werden. Zudem müssten weitere Reformschritte folgen. Sinn forderte unter anderem Einschränkungen beim Kündigungsschutz. Auch das Hamburgische Welt-Wirtschafts-Archiv (HWWA) in Hamburg rechnet noch in diesem Winter mit fünf Millionen Arbeitslosen.
Etwa 3,4 Millionen Menschen sind direkt betroffen, wenn am 1. Januar unter dem Titel »Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe« dieses Gesetz in Kraft tritt, das einen ganzen Zweig des deutschen Sozialstaats kappt. Die Folgen reichen bis weit in die Mittelschichten hinein. Künftig führt jeder andauernde Arbeitsplatzverlust automatisch zum Abstieg bis hart an die Armutsgrenze.
Die Angst vor »Hartz« brachte im Sommer Hunderttausende auf die Straßen, insbesondere in den Städten Ostdeutschlands. Die größte Montags-Demonstration erlebte Leipzig Ende August, als mehrere zehntausend Menschen gegen die Arbeitsmarktreformen demonstrierten. SPD-Außenseiter Oskar Lafontaine reihte sich bei den Demonstrationen ein und wetterte gegen die unsoziale Politik von Rot-Grün.
Clement schäumte, weil er das Wort »Montagsdemonstration« - Symbol-Befriff für die friedliche Revolution in der DDR im Herbst 1989 - schändlich missbraucht sah.
Enttäuschte Gewerkschafter und und aus Protest ausgetretene SPD-Mitglieder sammelten sich in der »Wahlalternative«, die ihre alternativen Vorstellungen einer gerechteren Sozial- und Wirtschaftspolitik auch in die Parlamente tragen will. In einer bundesweiten Urabstimmung entschieden sich die 6000 Mitglieder für die Umwandlung ihres Vereins in eine Partei. Die »Wahlalternative« will bei der Landtagswahl im Mai 2005 in Nordrhein-Westfalen bereits antreten.
Auf deutlich weniger Resonanz stießen die Hartz-Proteste im Westen Deutschlands. Demonstrationsaufrufen, auch in den Städten Ostwestfalen-Lippes, folgten selten mehr als insgesamt einige tausend Menschen. Im Laufe des Herbstes flaute die Protestbewegung wieder ab. Anfang Dezember wurde bei 31 Montagsdemonstrationen in Nordrhein-Westfalen noch 900 Teilnehmer gezählt.
Auch das wegen der Arbeitsmarktreformen angespannte Verhältnis zwischen Einzelgewerkschaften des DGB und den Sozialdemokraten entspannte sich zum Ende des Jahres wieder.
SPD-Parteichef Franz Müntefering hält das zeitweise äußerst belastete Verhältnis inzwischen wieder für normal. »Die Gewerkschaften haben akzeptiert, dass demokratisch legitimitiert entschieden wurde.« Die Koalition werde ihre Zusagen einhalten, bis Ende 2005 die Folgen der Hartz-IV-Reform zu prüfen und je nach Ausgang der Prüfung im Interesse der Betroffenen nachzubessern.
Wenige Tage vor dem Start der Hartz-IV-Reform zeichnet sich nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit (BA) beim Arbeitslosengeld II eine Ablehnungsquote von etwa sechs Prozent ab. Bis Anfang der Weihnachtswoche sei 154 000 Antragstellern die neue Grundsicherung verweigert worden, berichtete ein BA-Sprecher. Insgesamt seien 2,5 Millionen Anträge bearbeitet und 2,2 Millionen Bescheide verschickt worden. Die Zahlungen würden pünktlich bis zum Jahresbeginn auf die Konten überwiesen.
Das neue Arbeitslosengeld II und die Regelsätze der Sozialhilfe führen nach Auffassung des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband (DPWV) zu neuer Armut. Um das »sozio-kulturelle Existenzminimum« von Millionen Bundesbürgern zu sichern, müssten sie um ein Fünftel höhere Leistungen erhalten, forderte die DPWV-Vorsitzende Barbara Stolterfoht.
Sie warf der Regierung vor, aus Finanznot die Leistungen für Langzeitarbeitslose und Sozialhilfeempfänger manipuliert und »klein gerechnet« zu haben. Das Bundeswirtschaftsministerium wies die Vorwürfe zurück und lehnte einen finanziellen »Nachschlag« ab.
Nach Stolterfohts Auffassung sollte deshalb der mit ALG II identische Sozialhilfe-Regelsatz von monatlich 345 auf 412 Euro im Monat steigen. Der Mehraufwand betrage 4,4 Milliarden Euro. Dies sei ohne Steuererhöhungen durch Abschmelzen von Ehegattensplitting und Eigenheimzulage zu finanzieren, meinte die Verbands-Chefin. Sie forderte auch einheitliche Regelsätze in Ost und West.
Die neue »Regelsatzbemessung nach Finanzlage« sei »ein Dokument der Ausgrenzung«: Es schreibe Armut fest und verschärfe sie.
Eine »neue Armutspolitik« und eine gesellschaftliche Diskussion über das Existenzminimum sei notwendig. Der Verband plädierte dafür, die Sozialhilfe in Zukunft vom Bundestag und nicht mehr »in Hinterzimmern von Ministerien« festlegen zu lassen.

Artikel vom 31.12.2004