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Giscard d'Estaing fordert mehr Realismus in der Beitrittsfrage

Franzose warnt vor Identitätsverlust - alte Versprechen seit 1995 erfüllt

Bielefeld (WB). Für eine privilegierte Partnerschaft der Türkei in der EU, aber gegen eine Vollmitgliedschaft: Der frühere französische Präsident Valéry Giscard d'Estaing (78) wendet sich an die Deutschen mit seiner Sicht der Dinge.
»Der Beitritt der Türkei, zu welchem Zeitpunkt auch immer«, schreibt Giscard, »würde sie zum ersten Entscheidungsträger der EU erheben.« In einem Beitrag für die FAZ (26.11.) und vier andere europäische Zeitungen, aus denen im folgenden zitiert wird, hieß es weiter, durch eine Vollmitgliedschaft würde sich die Natur des europäischen Projektes wandeln.
Die Möglichkeit eines Beitritts der Türkei zur EU entfache leidenschaftliche Diskussionen auch in vergleichbaren Ländern. Schon werde in der Ukraine über eine EU-Mitgliedschaft in einer Weise spekuliert, dass manche daraus bereits Ansprüche abzulesen glaubten. Auch Marokko oder Russland könnten eines Tages den Fall Türkei als Referenz für eigene Ansprüche heranziehen.
Giscard räumt ein, dass schon vor Jahren gegebene Zusagen scheinbar für den Beitritt sprächen. Allerdings rät der Franzose zu genauer Betrachtung. Die in den 60er Jahren eingegangenen Verpflichtungen »hatten ein anderes Umfeld«, stellt Giscard klar. Damals sei es um den Beitritt zum Gemeinsamen Markt gegangen. Dieses Versprechen sei seit 1995 mit dem Vertrag über eine Zollunion erfüllt.
Die Ablehnung der Türkei wegen ihrer muslimischen Prägung lässt Giscard ebenfalls nicht gelten. Schließlich werde das muslimische Bosnien-Herzegowina gewiss auch aufgenommen, sobald es demokratische und wirtschaftliche Standards erfülle. Umgekehrt könne die Religion aber auch nicht Argument für die Aufnahme eines Landes sein, meint der Franzose.
Als Hauptautor der neuen Europäischen Verfassung rät Giscard zu einer ehrlichen und klaren Haltung gegenüber der Türkei. Nur so könne der Affront vermieden werden, den eine Absage in den Augen der muslimischen Welt bedeuten würde. Auch gelte es anzuerkennen, welche Fortschritte von der Türkei erzielt wurden. Niemand solle Gefahren nähren, die einen Zusammenprall der Kulturen noch verschärften.
Immer wieder nimmt der Autor Bezug auf den Vertrag zur Europäischen Union, der in Artikel I - VIII 49 festlegt: »Jeder europäische Staat kann beantragen, Mitglied der Union zu werden. Er richtet seinen Antrag an den Rat. Der Rat beschließt einstimmig.«
Fünf Sechstel des türkischen Territoriums - einschließlich seiner Hauptstadt - lägen außerhalb Europas, erinnert Giscard. Weiter verweist er auf die Bevölkerungsgröße von 89 Millionen im Jahr 2025, die wirtschaftlichen und sozialen Folgen, die ein Beitritt des dann ärmsten Landes der Union nach sich ziehen würden, die Ansiedlung einer großen türkischsprachigen Gemeinschaft jenseits der Landesgrenzen sowie auf den Umstand, dass Europa plötzlich eine gemeinsame Grenze mit Syrien, dem Irak und Iran besäße.
Auch in Frankreich ist die Meinung ganz offensichtlich gespalten. 64 Prozent seiner Landsleute sprechen sich gegen einen Beitritt aus, obwohl Präsident Jacques Chirac am 26. Oktober in Berlin beteuerte, dass »mein innigster Wunsch es ist, dass wir bei Abschluss des Verfahrens, das zehn beziehungsweise fünfzehn Jahre dauern wird, zu einer Beitrittsmöglichkeit gelangen«. Giscard fragt: »Wird die Vernunft doch noch in diese Debatte einkehren?«
Nicht auf den Beitritt sollten sich die Verhandlungen konzentrieren, meint Giscard, sondern sich der Art von Beziehungen widmen, welche die EU mit großen Nachbarn unterhält. In der Wirtschaft sei alles möglich, wenn man schrittweise herangehe. Politisch aber »können nur Kooperationen ins Auge gefasst werden, die so zu gestalten wären, dass sie die Partner zufrieden stellen«. Und: »Die EU muss zeigen, dass sie der Türkei unverzüglich einen durchdachten, würdigen und präzisen Vorschlag unterbreiten kann.«

Artikel vom 15.12.2004