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Als die Stasi
am Rad drehte

Der Weg eines Jahrhunderttalents

Ein Kapitel deutsch-deutscher Sportbeziehungen. Ein Radsportkrimi. Eine Lebens- und eine Leidensgeschichte. All das trifft auf die Biographie des Radsportlers Wolfgang Lötzsch zu. Und noch etwas mehr: Sie ist höchst lesenswert und macht zutiefst nachdenklich.

Mit sechs Jahren sitzt Wolfgang Lötzsch erstmals auf einem Fahrrad - dem Damenrad seiner Mutter. In diesem Moment beginnt die Laufbahn des größten deutschen Radsporttalents zwischen Gustav »Täve« Schur und Jan Ullrich. Doch Lötzsch wird um seine Karriere, ja sogar um sein Leben betrogen. Von der Stasi. Von einem Moment auf den anderen.
Bis zum Frühjahr 1972 läuft alles perfekt: Der 19-Jährige träumt von der Friedensfahrt, von Olympia in München. Doch dann wird Lötzsch aussortiert. Jahre zuvor war sein Cousin in den Westen geflohen. Ein erster Verdachtsmoment. Jetzt behaupten die Behörden, auch der Radsportler wolle sich bei der Olympia-Vorbereitung in Belgien absetzen. Er gilt als politisch unsicher. Das ist das Aus - für Olympia, für die Nationalmannschaft. Und es ist das Ende aller Träume. Denn ohne Unterstützung von Staat und Partei rollen die Räder in der DDR nicht. Normalerweise.
Doch Lötzsch tritt weiter in die Pedale. Eisern und mit mächtigem Zorn. Vor allem, um es »denen« zu zeigen. Aber es ist ein ungleiches Wettrennen: Hier der einsame Sportler, da der staatliche Überwachungsapparat. Eine eigene Abwehrgruppe kümmert sich inzwischen um »Speiche«, wie Lötzsch von der Stasi genannt wird. Die Akte wächst und wächst. Schließlich sind es 1500 Seiten, auf denen der Chemnitzer nach der Wende lesen muss, wie sein Leben mutwillig zerstört wurde. 50 Inoffizielle Mitarbeiter lauschen, spionieren und verleumden, um den Ehrgeiz und den Willen eines Einzelnen zu brechen. Trotzdem bleibt Lötzsch aufrecht sitzen. Vier Jahre später gewinnt er sogar das Olympia-Ausscheidungsrennen gegen die besten DDR-Fahrer, die nicht mehr mit ihm sprechen dürfen.
Dann wird er für zehn Monate in Stasihaft gesteckt, weil er dem Korrespondenten der »Süddeutschen Zeitung« ein Interview gibt. Aber Lötzsch fährt immer weiter. Die deutsch-deutsche Wende kommt für ihn zu spät. Ein paar Siege in Freiheit und die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes in 1995: Was wiegt das schon gegen ein verpfuschtes Leben? Heute arbeitet Lötzsch als Mechaniker beim Team Gerolsteiner.
Der Bielefelder Philipp Köster - er ist auch Chefredakteur von »11 Freunde«, dem Magazin für Fußballkultur« -Êhat diese authentische Lebensgeschichte aus dem Verborgenen ans Tageslicht geholt. Die teils dürre und bürokratische Diktion verstärkt den Eindruck einer unglaublichen Ungerechtigkeit. Hans Peter Tipp
Philipp Köster: Lötzsch - der lange Weg eines Jahrhunderttalents, Covadonga-Verlag, Bielefeld, 253 Seiten, 19,80 Euro

Artikel vom 18.12.2004