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Fehlernährung

Dicke Kinder tragen nicht nur an Pfunden

Uns geht's gut. Uns geht's zu gut. Ein Blick in die Fußgängerzone jeder x-beliebigen Stadt, und es ist klar: Uns geht's einfach pfundig. Nie zuvor hatten die Deutschen soviel Speck auf den Rippen.

Gummibärchen und Chips setzen an.
Bewegung statt vor der Glotze oder dem Computer zu sitzen: Das hilft gegen Fettleibigkeit.

Und nicht nur die Deutschen. Hatte Großbritanniens Regierung bereits im Vorjahr den Über-Ernährungsnotstand bei seinen Kids ausgerufen und sich selbst vor so drastischen Äußerungen nicht gescheut wie jener, dass die aktuelle Jugend aufgrund epidemischer Adipositas (der beinahe sympathisch klingende medizinische Begriff für Fettleibigkeit) wohl die erste sein werde, die vor ihren Eltern von der Erdoberfläche abtreten wird, so war das Thema in diesem ablaufenden Jahr erstmals auch schlagzeilenträchtig in Deutschland an der Tagesordnung.
Ja, Fehlernährung ist ein Thema. Eines, das uns über die nächsten Jahre und Jahrzehnte begleiten wird, wenn nicht umgesteuert wird. Fehlernährung hat dramatische Folgen, individuell wie für die Gesellschaft insgesamt. Denn dicke Kinder haben ein deutlich erhöhtes Risiko für Diabetes vom Typ 2 - bislang wegen Auftretens vor allem im fortgeschrittenen Alter volkstümlich als »Alterszucker« bezeichnet. Inzwischen sind es keine Einzelfälle mehr, die bereits im Grundschulalter daran leiden. Alterszucker ist fast immer eine Folge von Fehlernährung und somit individuell zu beeinflussen - im Gegensatz zum Diabetes vom Typ 1, dem ein zumeist genetisch bedingtes, nicht durch Ernährung zu beeinflussendes organisches Versagen der Bauchspeicheldrüse zugrunde liegt.
Diabetes-Kinder sind nicht zu beneiden. Sie haben eine Krankheits-Karriere vor sich, welche ihre Lebensqualität dauerhaft einschneidend einschränkt. Umso schlimmer, dass immer mehr von ihnen durch den vermeidbaren Diabetes 2 dieses Schicksal ereilt. Schlimm auch für die Solidargemeinschaft. Steigt nämlich der Anteil an Diabetikern an der Bevölkerung wie derzeit erheblich, wird zwangsläufig das Budget der öffentlichen Gesundheitsversorgung mit Milliardenkosten für die Behandlung gesprengt.
Der unkontrollierte Genuss der jederzeit verfügbaren Sattmacher, seien es XXL-Schokoriegel, XXL-Hamburger-Menüs oder XXL-Trommeln voller Kartoffelchips, gehen eine unheilvolle Allianz mit Bildschirmen aller Art ein. Am Computer oder vor dem Fernseher lässt sich trefflich mampfen, ohne dass auch nur eine der gespeicherten Kalorien verbrannt würde. Immer mehr Nährstoffe, immer weniger Bewegung. Schwergewichtigen Jugendlichen geht schon auf der Treppe die Puste aus, ein Spaziergang wird zur Marter.
Gleichwohl wird die Brisanz des Themas vielfach noch nicht richtig eingeschätzt. Übergewicht, selbst erhebliches, wird in der öffentlichen Wahrnehmung vor allem als »optisches Problem« verharmlost, Diabetes als eine Krankheit, mit der es sich doch irgendwie alt werden lässt. Irgendwie sicher. Fest steht jedoch: Zu den Folgen von Diabetes 2 zählen Erblindung, Amputation von Gliedmaßen und Nierenversagen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) nennt auch Bluthochdruck, Herz-Kreislaufprobleme, Schlaganfall und selbst Krebs als mögliche Konsequenzen. Ist »Zucker« also halb so schlimm? Die Frage möge jeder für sich beantworten.
Diabetes ist ein Wohlstands-Problem. Einige Zahlen: Weltweit sind mehr als 22 Millionen Kinder unter fünf Jahren zu dick. Gut 17 Millionen davon leben in den Industriestaaten. Und jedes von ihnen hat ein erhöhtes Risiko für Diabetes, mahnt die WHO.
Der Diabetes Typ 2 betreffe immer mehr Kinder und Jugendliche, weiß auch der Deutsche Diabetiker Bund. »Fast die Hälfte der Typ-2-Diabetes-Erkrankungen könnte durch Gewichtsabnahme vermieden werden«, sagt Verbandschefin Rosmarie Johannes in Magdeburg. Nach Angaben des Diabetiker Bundes hat sich die Zahl der Diabetiker in Deutschland in den vergangenen 20 Jahren auf 6,3 Millionen Menschen verdoppelt. Bis 2010 - dass sind gerade mal fünf Jahre - wird bereits mit zehn Millionen Erkrankten gerechnet. »Kinder-Dickleibigkeit zu bekämpfen ist derzeit ein hochwirksamer Weg, um in Zukunft Diabetes zu vermeiden«, appellierte die zuständige WHO-Expertin Catherine Le Galès-Camus jüngst in Genf an die Vernunft vor allem der Eltern, ihren Nachwuchs ausgewogen zu ernähren. Ob's etwas bringt?
Die WHO schätzt, dass weltweit zehn Prozent der zwischen Fünf- und 17-Jährigen Übergewicht haben - Tendenz steigend. 13-Jährige, die mehr als 100 Kilo wiegen, sind keine Seltenheit. Und das ist kein »Babyspeck«, der sich »verwächst«.
In den USA, Vorreiter im massenhaften Verkauf von Fastfood & Co., ist die Zahl der Übergewichtigen unter den Sechs- bis 18-Jährigen auf 25 Prozent in den 90er Jahren gestiegen - nach 15 Prozent in den 70er Jahren: Das Gegenteil von galoppierender Schwindsucht, gewissermaßen.
Und woher kommt's? Der Schokoriegel als Zwischenmahlzeit mit 300 Kilokalorien ist schnell gegessen und auch wieder vergessen, nicht anders die fünf Schokobonbons mit 160 kcal und die Milchschnitte mit 117 kcal. Über den Tag verteilt sind das scheinbar nicht übermäßig viele Süßigkeiten, die aber schon mit 577 kcal zu Buche schlagen. Für den »richtigen« Hunger gibt's 'ne Bratwurst mit Brot (600 kcal) und dazu eine mittlere Portion Pommes (320 kcal) mit Majonaise. Dazu zwei Gläser Kakao mit insgesamt 300 kcal und irgendwo noch ein Glas Cola (88 kcal). Zusammen macht das fast 2000 kcal - ohne dass auch nur ein Happen Frühstück, Mittagessen oder Abendbrot eingenommen worden wäre. Das kommt dann noch hinzu. Da verwundert der steigende Anteil von übergewichtigen Kindern nicht. 2500 kcal sind die Energiezufuhr, mit der eine durchschnittlich belastete 70-Kilo-Person bestens durch den Tag kommt. Wer zuviel auf den Rippen hat, muss deutlich darunter bleiben...
Dicke Kinder tragen ein erhöhte Risiko für Erkrankungen. Weil Übergewicht eher selten genetisch oder hormonell bedingt ist, lässt sich durch die Auswahl und Menge der Nahrung und vor allem durch regelmäßige Bewegung wirkungsvoll dagegen ankämpfen. Bewegung bedeutet dabei keineswegs Hochleistungssport. Zur Schule gehen oder radeln, schwimmen, Müll runterbringen, Mineralwasser aus dem Keller hochschleppen, zum Einkaufen gehen oder aktiv (!) auf den Fußballplatz - jeder Gang macht schlank! Deshalb ist es auch kein Liebesbeweis, sein Kind mit dem Auto zur Schule zu bringen. Wer zudem auf Fettes und Süßigkeiten verzichtet, stattdessen Vollkornprodukte, Gemüse und Kartoffeln, Obst und Mineralwasser, Joghurt und Milch (fettreduziert) zu sich nimmt, wird satt und ist auf der richtigen Seite. Dann macht es auch nichts, wenn »mal« ein Hamburger dazwischen kommt.
Apropos: »Hobbythek«-Erfinder Jean Pütz hat es errechnet: Was heute als »normale« Portion gilt, war früher eine »Riesenportion«. Die Standardportion einer führenden Fastfoodkette, Pommes frites, Hamburger und Getränk, hat sich in 30 Jahren verdoppelt! Auch der »Mars«-Riegel ist heute länger als vor 40 Jahren.
Ist ein Kind erst einmal in die Übergewichts-Falle getappt, braucht es Zeit, Geduld und Zuversicht, um wieder herauszufinden. Und vor allem die Bereitschaft, neue Gewohnheiten zu entwickeln. Übergewicht ist nie das Problem des Kindes allein, sondern Herausforderung für die ganze Familie. Weniger Kilos, dafür mehr Gesundheit und Zufriedenheit sollten Belohnung genug sein, sie gemeinsam anzunehmen.

Ein Beitrag von
Ingo Steinsdörfer

Artikel vom 31.12.2004