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Kino

Selten zuvor gab es so viele politische Filme

In der medialen Hysterie vor der US-Präsidentschaftswahl konnte man den Eindruck gewinnen, dass Kinofilme einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf das Wahlverhalten haben könnten.


»Fahrenheit 9/11« und »Der Manchurian Kandidat« waren nicht die einzigen politisch geprägten Filme, aber die wichtigsten, am besten produzierten und besuchten. Neben Michael Moores Anti-Bush-Pamphlet und Jonathan Demmes Neuauflage eines 60er-Jahre-Thrillers gab es vier Dokumentationen, die eher den Demokraten dienen sollten: »Uncovered: The War on Iraq«, »Bush's Brain« über den Wahlstrategen Karl Rove, »Going Up River« über John Kerrys Vietnam-Erlebnisse und »The Hunting of the President« über die Kampagne gegen Bill Clinton. Außerdem zogen die »South Park«-Macher mit der Puppensatire »Team America« die Terrorpanik ins Lächerliche, und Independent-Regisseur John Sayles beschrieb in »Silver City« den Aufstieg eines Deppen bis zum Gouverneur von Colorado.
All' diese kleineren Filme liefen praktisch unter Ausschluss der Öffentlichkeit, während »Fahrenheit 9/11« - getragen von der »Goldenen Palme« beim Festival in Cannes -Êfrüh Partei ergriff und binnen weniger Wochen weit mehr als 100 Millionen Dollar einspielte. Wie scharf sich die Polarisierung der gesellschaftlichen Gruppierungen in den USA entwickelt hat, zeigen die Reaktionen auf Michael Moores umstrittene Pseudo-Doku.
Am Vormittag des 11. September 2001 besuchte George W. Bush eine Grundschule und erfuhr von einem Mann aus seinem Stab, der ihm ins Ohr flüsterte, von den Anschlägen in New York City und Washington. Der Klassenlehrer filmte den Besuch des Präsidenten eifrig mit und auch diesen Moment der Zeitgeschichte. Unmittelbar nach der Mitteilung war Bush quälend lange Minuten wie starr vor Schock, denn er konnte das Unfassbare nicht fassen. Die Deutung dieser Szene reicht von »zutiefst menschliche Reaktion« bis »Handlungsunfähigkeit«. Was hätte der mächtigste Mann der Welt denn tun sollen? Wie ein Irrer aufspringen, mit dem Hubschrauber über die zerstörten WTC-Türme kreisen und via Megaphon Osama Bin Laden drohen?
Wenn zwei Antagonisten wie Bush und Moore, die sich gegenseitig mehr brauchen als ihnen lieb ist, ihren Konflikt öffentlich austragen, dann stärkt das den politischen Halt auf beiden Seiten. Denn für überzeugte Patrioten ist Michael Moore ein Nestbeschmutzer und Vaterlandsverräter, wie George W. Bush unter Liberalen und Demokraten als neokonservativer Diktator gilt.
Weniger polarisierend setzt sich »Der Manchurian Kandidat« mit dem politischen System der USA auseinander. Beide Parteien finden sich darin wieder: Meryl Streep spielt eine eiserne Lady à la Hillary Clinton, und bei der Titelfigur handelt es sich um einen per implantiertem Chip gesteuerten Vize-Präsidenten -Ê womit nur Dick Cheney gemeint sein kann, der in seinem Amt Entscheidungen im Sinne ehemaliger Arbeitgeber und heutiger Großspender trifft.
»Das ist doch nur ein Film. Wie soll der Auswirkung auf die US-Wahlen haben? Da liest man zuviel hinein«, wird Hauptdarsteller Denzel Washington zitiert. Sein Regisseur Jonathan Demme sieht dies anders: »Unser Film handelt davon, dass Regierung und Großkonzerne mit dem Krieg gegen den Terror von ihren wahren Absichten ablenken wollen.«
Obwohl das Wahlergebnis gezeigt hat, dass Kinofilme kaum zählbare Wirkung auf unentschlossene Wähler haben und allenfalls Gleichgesinnte und Gegner in ihren Auffassungen bestätigen, wird sich der Trend zum politischen Kinofilm fortsetzen. Im neuen Jahr möchte der Schauspieler Stuart Townsend (»Die Liga der außergewöhnlichen Gentlemen«) sein Drehbuch »Amerika, Demokratie und Faschismus« vor die Kameras bringen. Allein der Titel ruft schon Aktivisten auf die Barrikaden -Êund das schafft Öffentlichkeit, Interesse, Zuschauer und Einnahmen. Und womit sich Geld verdienen lässt, das ist in Hollywood immer willkommen.

Ein Beitrag von
Andreas Schnadwinkel

Artikel vom 31.12.2004