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Doping

Balco serviert die
volle Enchilada

Und täglich grüßt das Doping-Tier. Besonders im Olympia-Jahr 2004 zeigte es seine hässlichste Fratze. Fast keine Sportart wurde von seinem den Fair-Play-Gedanken verletzenden Auftritt verschont.


Der Medaillen-Spiegel von Athen konnte nur noch unter Vorbehalt veröffentlicht werden. Denn häufig stand erst nach Auswertung von A- und B-Probe und sich daran anschließender Sport- und anderer weltlicher Gerichtsverfahren fest, wer Gold, Silber und Bronze gewonnen, und wer nicht EPO, TGH oder sogar die »volle Enchilada« (ein Gemisch aus Insulin, EPO, Wachstumshormonen, Modafinil und einer Testosteronsalbe) als Nahrungsergänzungsmittel verstanden hatte.
Die Deutschen mischten in diesem Spiel zwar auch mit, 2004 gab es 80 positive Tests bei 8300 genommenen Proben, aber das Unappetitlichste war »Made in USA« und mit einem Labor namens Balco verbunden.
Dass dessen Boss Victor Conte einige der berühmtesten US-Leichtathleten seit Jahren mit Chemie versorgt hat, hatte die US-Öffentlichkeit lange wenig beschäftigt. Das liegt zum einen daran, dass eigentlich nur Profi-Mannschaftssport in den Staaten interessiert, und man auch - ein Relikt aus den Zeiten des »Kalten Krieges« - nicht wirklich wissen wollte: Wo kommen diese Zeiten, Weiten und Höhen her?
Erst seit einem Jahr unternimmt das Nationale Olympische Komitee (USOC) ernsthafte Anstrengungen, den meist anabol-verseuchten Saustall auszumisten. Nicht ganz freiwillig. Erst unter Druck und Drohungen des belgischen IOC-Präsidenten Jacques Rogge verdienten sich die Dopingtests auch ihren Namen. Und man wurde fündig - im USA typischen Maßstab: »Bigger is better« (größer ist besser).
Die aktuellsten Fälle sind die Baseball-Stars Barry Bonds (San Francisco Giants) und Jason Giambi (New York Yankees), die im Rahmen von bundesbehördlichen Ermittlungen zum Vorwurf der Geldwäsche, Steuerhinterziehung und des unerlaubten Medikamentenhandels gegen Balco ausgesagt hatten. Nämlich, dass sie sich verbotenerweise mit Steroiden vollgepumpt haben.
Seine Weltgeltung bezog dieser Skandal vor allem aus der Tatsache, dass er die US-Leichtathletik als Plattform einer skrupellosen Industrie entlarvte. Bonds und Giambi kennt kaum jemand außerhalb der USA. Sprinterin Kelli White dagegen, die gestürzte Doppelweltmeisterin von 2003, Tim Montgomery, 100-m-Weltrekordler, oder Marion Jones, dreimalige Olympiasiegerin 2000, sind nicht nur Balco-Kunden, sondern auch Protagonisten der olympischen Kerndisziplin und Weltstars.
Die Balco-Affäre ist ein Lehrstück über entarteten Sport. Lange beklagten die Antidoping-Kämpfer, dass kaum Beweise vorlägen zum ewig währenden Verdacht gegen den Sport der »freien« Welt, und sehnsüchtig blickten sie auf den Nachlass der DDR, in dessen Akten man zwar keinen Trost finden konnte, aber zumindest die Gewissheit, dass es existierte.
Jetzt aber liegen Akten vor aus den Balco-Ermittlungen, E-Mails, Briefe, Dosierungstabellen und Vernehmungsprotokolle, die Einblicke gewähren ins dunkle Reich des »Doktor« Conte, das sich bis nach Griechenland erstreckte, zu Christos Tsekos, dem Trainer der Sprinter Konstantinos Kenteris und Ekaterina Thanou, die vor dem Heimspiel eine klassische Tragikomödie ablieferten.
Nach Olympia herrschte eine trügerische Ruhe, denn jetzt sind neue Bekenntnisse aufgekommen: Conte begegnet damit einer Gefängnisstrafe offensiv. Das dürfte ihm nun immerhin einen Termin bei der US-Antidopingagentur (Usada) einbringen. Die Usada hat erklärt, mit ihm sprechen zu wollen. »Diese ganze Sache war ein Hobby für mich«, sagte er im Sportsender ESPN. Moralische Bedenken? Fehlanzeige.
Ergreifender sind da schon die Auftritte von Kelli White, der Freundin des deutschen Speerwerfers Boris Henry. Als sie nach ihren zwei Gold-Triumphen über 100 und 200 m bei der WM 2003 erklären musste, wie das Modafinil in ihren Urin gekommen war, wirkte sie kalt wie Marmor.
Wenige Monate später fiel sie aus ihrer Rolle als unnahbare Muskelfrau, gestand ihren Betrug und akzeptierte eine zweijährige Sperre. Ihre Medaillen seit Dezember 2000 hat sie verloren, ihren Vertrag bei Nike, etwa 620 000 Dollar an Prämien und viele Freunde. Zur Zeit macht sie eine Ausbildung zur Masseurin.
Die Wirkung der »vollen Enchilada« muss überwältigend gewesen sein: »Ich konnte den Unterschied in ein, zwei Wochen sehen«, sagte sie im TV-Sender ABC. »Ich konnte härter und länger laufen«, in USA Today. Ihre Muskeln wurden größer, ihre Stimme rauer, die Akne blühte. Und »ich bin sicher, es gibt hunderte Victors.«
White zeigt wenigstens späte Reue. Andere führen taktische Tänze auf. Montgomery wird vor dem internationalen Sportgerichtshof die Dopinganklage der Usada gegen ihn anfechten. Es wird spannend, wie er das tun will, nach allem, was bekannt ist. Und Lebensgefährtin Jones wandelt durch die Leichtathletikwelt nur noch als großes, Victor Conte verklagendes Dauer-Dementi. An das nun wirklich keiner mehr so recht glauben kann.

Ein Beitrag von
Oliver Kreth

Artikel vom 31.12.2004