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Sie lachte ihn voll strahlenden Selbstbewusstseins an und sah dabei unglaublich schön aus: »Das wollte ich Ihnen auch schon vorschlagen. Vielleicht fällt mir ja ein besonderes Lokal für einen einsamen, hungrigen Junggesellen ein.«
»Einsam und hungrig? Wenn Sie sich über meinen Appetit so sicher sind, dürfen Sie mir jede Himmelsrichtung vorschlagen.«
»Vielleicht kocht Delia für einen hungrigen Schotten persönlich. Würden Sie eine solche Einladung annehmen?«
»Ich folge Ihnen, wohin Sie wollen«, sagte Duncan spontan.
Beide lachten. Duncan hätte Delia am liebsten spontan umarmt.
Auf dem gemeinsamen Weg ließ sich Duncan weitschweifige Geschichten einfallen. Er musste seinem übervollen Herzen Luft machen und die erwartungsvolle Aufregung überdecken, die ihn überkommen hatte. Delia hörte amüsiert zu und gab seiner Redefreudigkeit nur kurze Stichworte vor.
Mit einigen unterwegs gefüllten Einkaufstüten befrachtet, erreichten beide schließlich einen großen Wohnblock und dort, hoch oben am Ende eines schmalen Ganges, Delias Appartement. Als die Tür aufsprang und sie leichtfüßig in die enge Diele schlüpfte, ihre Schuhe abstreifte und in den nächsten Raum vorauseilte, wusste Duncan, dass ihm ein Abend mit verzauberten Stunden, durchwirkt mit langen Momenten purer Sinnlichkeit bevorstand. Der Mantel, die Windjacken, die in der Diele am Haken hingen, die großen schweren Schuhe sagte ihm allerdings, dass er sich im Revier eines fremden männlichen Wesens befand.
»Treten Sie ein!«, zwitscherte Delias Stimme.
»Aber nur, weil Sie es befehlen, Madame É«, kokettierte Duncan.
Er drückte sorgsam die Tür zu und sicherte sie, als schöbe er der Außenwelt einen mystischen Riegel vor. Dabei ging sein Puls deutlich schneller. Zögernd trat er über die Schwelle des Wohnzimmers.
Sie waren allein. Mit wem auch immer Delia sonst diese Räume teilte, sie würde den Abend mit der nötigen Umsicht geplant haben. Schließlich hatte er von der ersten Begegnung an festgestellt, dass sie einen Ehering trug. Sie musste wissen, wie sich die kommenden Stunden mit dem Zeitplan jenes Unbekannten vertrugen, dessen Zigarrenrauch noch in den Ecken des Zimmers hing.
Allein mit Delia, dem weiblichen Zauber und der Verführungskunst dieser prachtvollen Frau! Delia sollte und würde darüber verfügen, wie nah er ihr kommen durfte.
Ach, sie hatte es längst verfügt, und er war seiner Aufregung kaum noch Herr. In heller Vorfreude versuchte er sich in dieser kleinräumig geordneten Kulisse die nächsten Stunden vorzustellen. Er nahm wahr, wie Delia tänzelnd die Engpässe zwischen Topfpflanze, Regal, Sessel und Tisch nahm und konnte seine Fantasie kaum bändigen, als er die lange, einladende Couch in der Ecke musterte, an deren Fußseite eine seidig schimmernde Pelzdecke lag. Einen Augenblick lang gab er sich der Vorstellung hin, wie es sich anfühlen würde, mit nackter Haut darauf zu liegen. Delia würde herrlich dort aussehen und ein Wonnebad von Gefühlen vermitteln! Doch noch war es nicht so weit, und so richtete er seine Aufmerksamkeit auf die Umgebung.
Seine Augen wanderten quer durch das Zimmer. Die Nüchternheit schlichter Gebrauchsmöbel, die alle nicht recht zueinander passten, war geschickt durch einige dekorative Details aufgewertet worden. Ein merkwürdig schwerer achtarmiger bronzener Leuchter dominierte neben der Couch den Raum. Neben diesem stand ein Tischchen voller Bilderrahmen mit Gesichtern und Erinnerungen aus Delias Welt. Duncan hielt darin unwillkürlich Ausschau nach ihrem abwesenden Partner.
Was die Wände betraf, so war zu seinem Erstaunen über einen glühend roten Wandteppich ein großes Poster gespannt, das einen Raffaelengel, einen dieser vier Pilzköpfe aus Liverpool, zeigte, die sich ÝBeatlesÜ nannten und deren Songs täglich auf allen Radiostationen gespielt wurden. Auf der anderen Seite hingen Reproduktionen von wohlvertrauten englischen Landschaftsbildern des neunzehnten Jahrhunderts. Duncan musterte dieses Ambiente mit dem akribischen Interesse, daraus möglichst viel über dessen Bewohner zu erfahren. Hier waren weder der Platz noch das Geld vorhanden, ging es ihm durch den Kopf, um die eleganten Durchblicke und farblichen Nuancen zu schaffen, wie sie in den Häusern seiner Freunde und Verwandten die luftigen Wohnräume für das Auge ordneten. Aber dieses gedrängte Nebeneinander von Dingen erhielt durch einen Menschen Sinn, dessen Lebensfreude an jedem einzelnen Gegenstand spürbar wurde.
Während Duncan sich umsah, hatte Delia die Vorhänge zugezogen, die Kerzen angezündet und eine Schallplatte aufgelegt. Die Nebelklänge von Ralph Vaughan WilliamsÕ London Symphony wehten durch den Raum. Delia richtete sich auf, wandte sich Duncan zu, breitete die Arme aus und sagte strahlend: »Hat Mister Duncan es sich so vorgestellt?«
»Nein«, kam es prompt und ehrlich über dessen Lippen. Daraufhin zeigte er halb unverfänglich, halb doppeldeutig auf die pinkfarbene Couch: »So gemütlich habe ich es mir wirklich nicht gedacht!« Seine Stimme klang vor Erregung heiser, und er brachte kaum noch ein Wort heraus.
Delia sah Duncan an, als hätte sie seine Gedanken gelesen. Plötzlich nahm sie langsam beide Hände hoch und löste das Haarband über dem Nacken, sodass ihr braunes Haar auf ihre Schultern fiel. Ihre weiße Bluse spannte sich über ihren herrlich runden Brüsten. Das Blut schoss Duncan ins Gesicht, und die Härchen in seinem Nacken bildeten kleine Gänsehautmuster.
»Me quieres, mi amor?«, sagte sie mit dunkler, vibrierender Stimme.
Das unerwartete Spanisch steigerte Duncan Erregung. Aufgewühlt, doch erleichtert genoss er es, sich ihrer raffinierten Regie zu überlassen, dem Zwang des Handelns enthoben zu sein.
Delias Nase kräuselte sich leicht, als sie lächelnd die Bluse abstreifte. Ihre Wangen erschienen fast ohne Kontur, doch leicht gerötet. Im gleichen Augenblick, als sie mit der Hand locker durch die Frisur fuhr, hielt es Duncan nicht mehr. Stürmisch zog er sie an sich. Er streifte mit seinen Lippen Delias Hals entlang, liebkoste die schmalen Schultern, berührte ihre Wangen, bis sich endlich ihre Lippen trafen. Er fühlte das heftige Pulsieren in ihren Adern. Als sie beide nach Luft rangen, hob Duncan Delia auf seine Arme und trug sie zur Couch hinüber.
Duncans Puls raste. Langsam beugte er sich zu ihr hinab und flüsterte heiser: »Kennst du den großen Akt von Henri Gervex?«
Ohne den Arm vom Gesicht zu nehmen, flüsterte sie zurück: »Ja, das Bild kenn ich.«
»Das könntest du sein. Nur dass du noch viel schöner bist!«
»Zeig es mir É«, hauchte sie.
Delia stützte sich irgendwann hoch und sah zu dem beseligt daliegenden Duncan herab. »Da habe ich mir ja einen Vulkan als Liebhaber ausgesucht«, sagte sie. Duncan räkelte sich, während Delia sich über ihn beugte und ihn aufmerksam anblickte. »Erzähl mir etwas aus deinem Leben«, sagte sie. »Nein, zuerst verrätst du mir, was dich vorhin ausgerechnet auf dieses Bild von Gervex gebracht hat.«
Er streichelte ihre Wange und ihren Hals und betrachtete sie voll andächtiger Bewunderung. Wie sie unbewegt auf ihn herabsah, ergriff er ihre Hand und musterte die langen, schmalen Finger und die glatte Haut. Unter der Oberfläche waren von Fingerglied zu Fingerglied jene kleinen, energischen Polster zu spüren, die sich so typisch in allen Linien von Delias gesamter Erscheinung abzeichneten. Den Ring, den sie sonst an der linken Hand trug, hatte sie abgestreift.
Duncan sah die Druckspur in der Haut und fragte sich, ohne darauf einzugehen, warum sie dieses Zeichen ihrer Bindung abgelegt hatte.
»Hast du die Figuren auf dem Bild vor Augen? Sie haben eine besondere Geschichte. Kennst du sie?«
»Nein. Aber erzähl!«
»Nun, ein wenig ähnelt das, was auf dem Bild passiert, unserer Situation.« Duncan fuhr mit dem Zeigefinger die Rundungen ihrer Brüste entlang: »Eine so wunderbare Verführerin! Sie hat sich selbst ausgezogen É«
»Stimmt nicht! Du hast mich ausgezogen«, spielte Delia die Protestierende.
»Und das mit Wonne, meine Liebste. Ich sagte ja auch, es ähnelt nur ein wenig É«
»Red weiter!« Sie zog eine Wolldecke auseinander, die neben der Couch gelegen hatte und deckte sich und Duncan damit zu.
»Es war von der offiziellen Pariser Salonausstellung als unsittliches Bild zurückgewiesen worden. Aber in einer Ausstellung der abgelehnten Werke haben es Tausende schaulustige Pariser vor hundert Jahren bestaunt, und die Presse hat mit ihrer Empörung erst recht Neugierige angelockt. Dabei hatte sich Gervex zu seiner Darstellung durch einen Bestseller im Paris der Belle ƒpoque inspirieren lassen. Ein Bestseller in Versen, stell dir vor, mit dem Titel Rolla.«
»Du beleidigst mich, mein Liebster!«, schmollte Delia in perfekter Vollendung.
»Warum das denn?«
»Ich kann mir denken, was Rolla hauptsächlich gemacht hat! Eine Frau, die die Kleider abwarf und É na ja, sich hinrollte. Eine É Du bist gemein!«
Duncan hielt ihr den Mund zu. »Pssst! Du zerstörst alles! Nein, nein! Rolla war der sympathische Held - oder eher Antiheld - in jener Verserzählung!« Duncan ging nah an Delias Gesicht heran, umfasste ihre Schulter und drückte sie sanft nieder. »Ein Mann von unersättlichem Hunger auf Leben und Liebe!«
»Dann bin ich ja beruhigt, du hungriger É Venusnarr!«
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 16.12.2004