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Die Bildzone oberhalb des Venuskopfes ist angesetzt, möglicherweise kamen der kleine Amor und der Spiegel erst nachträglich hinzu. Mit pastoser Farbe ist alles sehr zügig gemalt, aber einige Partien sind unausgeführt geblieben. Die bereits fertige Malerei wurde mehrfach abgeändert. Einige dieser Veränderungen sind unorganisch und passen mit dem Übrigen nicht zusammen.«
»Und gibt es dafür eine Erklärung?«
»Bestenfalls die eine oder andere Vermutung. Es ist nicht das normal vorbereitete und ausgeführte Werkstattprodukt. Hier sind ungewöhnliche Motive im Spiel. Und die Abänderungen, die Sie im Röntgenbild sehen werden, sprechen dafür, dass es kein normales Auftragsbild war, sondern dass hier Züge einer Person kaschiert worden sind.«
Duncan hörte gespannt zu. »Und wer hat diese Abänderungen vorgenommen? Der Maler selbst?«
»Einige könnten von Velázquez stammen, andere von späteren Malern oder Restauratoren. Vielleicht lässt sich dazu etwas herausfinden. Im Inventar des ersten nachgewiesenen Besitzers, Don Gaspar de Haro, ist das Bild mit über zwei Metern Breite angegeben, zweiunddreißig Zentimeter mehr als heute. Es blieb bei seinen Nachkommen und war am Ende des siebzehnten Jahrhunderts als Schmuck in eine Zimmerdecke eingesetzt, wahrscheinlich im Schlafgemach.«
»In Madrid?«
»Außerhalb der Stadt, auf einem Landsitz. Und da blieb es mehrere Generationen. Die Herzogin von Alba, die das Bild geerbt hatte, schenkte es im Jahre 1800 oder kurz davor einem der größten Wüstlinge der Zeit, dem spanischen Premierminister Godoy.«
Duncan runzelte die Stirn. »Ist das dieselbe Herzogin von Alba, die von Goya gemalt wurde?«
»Ja, das Modell der angezogenen und der nackten Maja. Stellen Sie sich vor: Hundertfünfzig Jahre nach Velázquez entsteht das zweite Aktbild eines spanischen Malers, das wir kennen. Es zeigt die Besitzerin des ersten.«
»Und dann?«
»Zwei Jahre später stirbt die Herzogin, und der lüsterne Godoy kauft die Mayas von ihren Erben und hat wieder die Ikonen der Aktmalerei vereinigt. Aber dieser Glanz währte nicht lange. Spanien wurde von Napoleons Truppen besetzt, Godoy verbündete sich mit Napoleon und wurde 1808 durch einen Volksaufstand gestürzt. Der Befreier Spaniens hieß Wellington. Jedenfalls taucht die Venus des Velázquez 1813 bei einem Londoner Kunsthändler auf. Der verkauft sie an einen Gentleman, in dessen Landschloss Rokeby Hall sie neunzig Jahre lang im Salon hing. Und als ÝRokeby-VenusÜ wurde sie 1905 von der Firma Agnews an die National Gallery verkauft.«
»Das ist eine fantastische Geschichte«, sagte Duncan.
»Über das wechselvolle Schicksal des Bildes wissen wir inzwischen Einiges, wenn auch lange noch nicht genug«, meinte Ruhemann. »Aber seine Entstehungsumstände sind bis heute noch völlig unklar. Ich bin schon meines Alters wegen nicht mehr in der Lage«, fuhr er fort, »die Archivunterlagen zu VelázquezÕ Werken in Madrid und in Rom zu studieren. Aber Sie sollten das tun, für Ihr eigenes Projekt, nachdem Sie sich hier mit allen Forschungsergebnissen vertraut gemacht haben. Sie finden dort auch andere Restaurierungsprotokolle. Und bei der Gelegenheit könnten Sie für mich mit recherchieren.«
Duncan war noch ganz fasziniert von der Möglichkeit, die sich für ihn aufgetan hatte. »Ich möchte diese Chance wahrnehmen É Spanisch spreche ich etwas und Italienisch recht gut. Was hoffen Sie zu finden?«
»Die Antwort auf die Frage, wo VelázquezÕ Aktbilder und insbesondere unsere Venus entstanden sein können. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er dieses Gemälde in seinem eigenen Atelier geschaffen hat. Der Befund spricht dagegen, ebenso wie die Zeitumstände. Beachten Sie auch seine Kontakte zu anderen Künstlern und Werkstätten. Denn was außerhalb von Madrid entstanden ist, muss er in der Werkstatt von jemand anderem gemalt haben. Es muss irgendwelche Spuren geben.«
»Und würden Sie mit mir meine Funde und Kombinationen besprechen?«
»Ich würde mich freuen, wenn es so weit kommt!« Damit erhob sich Ruhemann und ging zum Telefon für einen Rückruf in seinem Sekretariat. Anschließend teilte er Duncan gleich seine ersten Aufgaben mit: »Lieber junger Freund, Sie haben großes Glück! Einer unserer Mitarbeiter macht gerade Urlaub. Delia wird Ihnen die Gelehrtenkammer samt Arbeitstisch zeigen. Sie hat dort bereits die Mappen mit den Restaurierungsberichten und Bilddokumentationen gestapelt. Sie werden dort alles über die Leinwände, die Pigmente und Bindemittel erfahren, was wir bisher herausbekommen haben.«
»Kann ich auch schon die Röntgenfotos sehen und die chemischen Analysen der Venus?«
»Natürlich! Vor einer so heiß debattierten Freilegung des Originals wollen meine Kollegen und ich mindestens so genau informiert sein wie Sie vor dem Fertigen einer Kopie«, scherzte Ruhemann.
Duncan wusste kaum, wie er seine Freude ausdrücken sollte. »Ich hätte mir nie träumen lassen É«
Doch Ruhemann ließ ihn gar nicht zu Wort kommen: »Man könnte meinen, wir hätten in den letzten Jahren eine exklusive Forschungsarbeit für Master Duncan Munro betrieben. Der vor acht Jahren erworbene Johannes auf Patmos, die Madonna über den Wolken und Christus bei Maria und Martha stammen fast aus dem selben Jahr wie das Bild, das Sie in Edinburgh kopieren wollen, und sind sehr genau untersucht worden. Das Letztere zeigt dieselben Gefäße, wie sie vor der Frau mit den Spiegeleiern stehen; da können Sie direkt unsere Pigmentangaben verwenden. Nur kriegen Sie die Farbpigmente von den heutigen Herstellern nicht genauso gerieben wie damals. Aber auch der Philipp IV. und der Christus an der Geißelsäule sind reichlich dokumentiert.«
In freundschaftlichem, aber bestimmtem Ton setzte er hinzu: »In den nächsten Tagen werden Sie Gelegenheit haben, sich einzulesen. Die Ergebnisse werden wir dann bei der Teestunde besprechen.«
»Mit größter Freude!«, platzte es aus Duncan heraus.
Als er sich verabschieden wollte, fiel ihm noch etwas Wichtiges ein: »Aber wie komme ich hier rein und raus?«
Über Helmut Ruhemans Gesicht spielte ein verschmitztes Lächeln. » Da gibt es nur eine Lösung.« Er drehte sich zur Tür, die im gleichen Moment aufging: »Delia wird Ihnen dabei behilflich sein.«

Duncan hatte bereits den vierten aufregenden Tag mit Bilderstudium und eifriger Benützung der ihm von Ruhemann eröffneten Forschungsbibliothek verbracht. Sein Kopf schwirrte nach der tagelangen, konzentrierten Durchsicht von Fotos und Restaurierungsberichten. Seite für Seite seines Studienhefts hatte er mit klein geschriebenen Notizen gefüllt. Seine Augen taten ihm weh; er räkelte sich und stemmte sich gegen die Lehne des geräuschvoll knackenden Stuhls. Das Geräusch ließ ihn die Bewegung der Tür überhören, die hinter seinem Rücken leise geöffnet worden war. Als er unerwartet eine Hand auf seiner rechten Schulter fühlte, schreckte er zusammen.
»Hat der Herr Student nicht schon genug gelesen?«, sagte eine weiche Stimme neben ihm. Delia kam um den Tisch herum und sperrte ihm mit der Hand das Papier. »Sie haben seit heute Vormittag nichts gegessen. Ich darf nicht zulassen, dass Sie einen Schwächeanfall erleiden. Was müssen Sie denn in diesen vielen Papieren finden?«
Duncan wusste nicht genau, was er erwidern sollte, und rettete sich in die Sachlichkeit. »Ich habe schon eine Menge überaus nützlicher Hinweise gefunden. Ich kann mir die Palette von Velázquez schon fast komplett vorstellen. Nur das Malen wie Velázquez fällt mir noch schwer«, meinte er halb scherzend, halb treuherzig.
»Das müssen Sie aber nicht mehr heute üben. Wollen Sie nicht einmal aufstehen und sich bewegen, vielleicht sogar ein Stück laufen?«, fragte Delia ermunternd.
»Warum nicht?« Duncan reagierte freudig überrascht und erhob sich langsam von seinem Stuhl und begann sich zu strecken.
Delia musterte ihn von oben bis unten. Sie strich sich mit der rechten Hand über ihr Kinn und meinte mit einem herausfordernden Lächeln: »Wenn der Herr Student sich weiterhin so schnell bewegt, wird aus unserem Spaziergang heute nichts mehr!«
Duncan spannte sich wie eine Raubkatze. »Ich gebe Ihnen genau eine Sekunde Vorsprung.«
Sie wirbelte auf dem Absatz herum und war im Nu um die Ecke des Ganges. Fast hätte Duncan einen Aufseher umgerannt, der ihm mit einer hocherhobenen Thermosflasche entgegenkam, aber dann sah er Delia und hatte sie nach wenigen Schritten eingeholt. Er hielt sie an den Rundungen ihrer Schulter fest; woraufhin sie sich bereitwillig zurückfallen ließ. Für einen Augenblick fühlte er ihren Rücken an seiner Brust. Er nahm den Duft ihres Haares wahr und spürte ihre Wärme und die berauschende Erfahrung, dass sie sich von ihm angezogen fühlte. Er blickte über sie hinunter und sah, wie ihre Brust sich senkte und hob, wobei ihr Atem schneller ging. Für den Bruchteil einer Ewigkeit standen sie so aneinander gelehnt. Doch dann drehte Delia sich ihm zu und blickte ihm aus nächster Nähe in die Augen. Der Konflikt zwischen seinem Wunsch, ihr näher zu kommen, und dem Bewusstsein, in den Dienstgängen einer Ehrfurcht gebietenden Institution zu stehen, lähmte seine Initiative. Seine Hände glitten langsam an ihr herunter und gaben sie frei. Er trat einen halben Schritt zurück: »Können É wir miteinander É abendessen gehen?«
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 15.12.2004