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Sie sahen bestenfalls wie die Schemazeichnungen aus dem Anatomiebuch aus, ziemlich langweilig! Duncan dachte zurück an die steifen Tierkörper auf den Bildern zu Hause in der großen Halle. Sein Vater hatte wie viele andere Landbesitzer in der Nachbarschaft einmal mehrere Wochen einen angesehenen Pferdemaler auf dem Schloss einquartiert, der seine Lieblinge in einer gefälligen Bildfolge festhielt. Intensive Erinnerungen stiegen vor Duncan auf: an die dunkle Diele, an den Geruch der Pferde, der vor allem von den Stiefeln und Reitmänteln im Vorraum ausströmte.»Mr. Munro, ich bin Delia Moore vom Restoration Department É«
Duncan fuhr herum und sah in zwei durchdringend zu ihm aufblickende, wunderbar symmetrische, dunkelbraune Augen beidseitig eines geraden Nasenrückens, der sich apart zu zwei eng anliegenden schmalen Nasenflügeln hinunterschwang.
»Guten Morgen«, erwiderte er mit belegter Stimme. Es war so überraschend, so lebendig und schön, was ihm hier begegnete.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte sein zierliches Gegenüber.
»Doch, doch«, beteuerte Duncan, »ich freue mich auch sehr, dass sie mich empfangen É«
»Dann folgen Sie mir einfach.« Sie lächelte, drehte sich, um mit kurzen, energischen Schritten vorauszugehen. Duncan sah der Bewegung ihrer straffen, glatten Waden einen Moment verträumt nach, um sich dann zügig an ihre Fersen zu heften und seine Betreuerin an der Theke des Portiers wieder einzuholen.
»Unsere Gäste, besonders die aus Schottland, bekommen hier ein Schildchen«, sagte sie und ließ ihn wieder in die unbewegte Tiefe ihres Augendunkels schauen. »Wenn Sie hier bitte mit ihrem vollen Namen unterschreiben würden É« Sie berührte seine Hand und schob diese auf eine aufgeschlagene Buchseite.
»Ausdrucksvolle Schrift! Sehr künstlerisch!«, bemerkte sie beim Blick auf seinen Namenszug. Selbstbewusst schob sie ihre Lippen etwas vor. »Wir sind hier Spezialisten für Signaturen. Kommen Sie!«
Duncan wollte etwas Originelles sagen, musste aber erst einmal schlucken und ärgerte sich, weil er für den Moment nicht die richtigen Worte fand.
»Ich habe im vergangenen Jahr zwanzig Bilder gemalt - und verkauft -, dafür braucht man eine markante Signatur«, versuchte er seine Balance wiederzufinden.
»Vielleicht gebe ich auch ein Bild bei Ihnen in Auftrag«, sagte sie lachend. »Was für Bilder malen Sie denn?«
»Einen Auftrag von Ihnen würde ich sofort annehmen. Ich male ziemlich realistisch, nicht unbedingt so, wie es heute modern ist, aber so, dass etwas vom Charakter meiner Modelle festgehalten wird.«
Delia lachte: »Keine schlechte Idee; so kommen wir eines Tages beide noch in die National Gallery. Oder besser in die Tate. So ein alter Meister sind Sie doch noch nicht!«
Nach einigen Abbiegern und Treppenstufen standen sie vor einer Glastür mit dem Schild Restaurierungsabteilung. Delia drückte den Klingelknopf und geleitete Duncan schließlich in einen hellen Arbeitsraum, das große Restaurierungsatelier.
»Da wären wir!« Dann war sie verschwunden.

Voller Erwartung und Neugier ging Duncan in diese Räumlichkeit stiller, doch intensiver Beschäftigung hinein. Wie in den meisten anderen Ateliers musste man erst an den Sichtsperren der wie dunkle Segel auf ihren Staffeleien befestigten Gemälde vorbei, um einen Überblick zu bekommen. Mehrere Personen waren hier tätig; ihre Objekte reichten von goldgrundigen mittelalterlichen Altartafeln bis zu impressionistischen Stimmungsbildern. Mit einem schnellen Blick orientierte Duncan sich rechts und links, um nun im Gegenlicht eine große, hagere Gestalt auf sich zukommen zu sehen.
»Ich bin Helmut Ruhemann. Herzlich willkommen in London, junger Freund. Wie war die Reise?«
»Ich habe im Zug ein Buch über das Leben und die Kunst von Velázquez gelesen; da ist mir die Strecke von Glasgow bis London wie im Flug vergangen«, sagte Duncan.
»Zugfahren bildet«, meinte sein Gegenüber trocken. »Ich bin diese Strecke vielleicht hundertmal gefahren É Wollen wir eine Tasse Tee miteinander trinken?«, fuhr er mit einem freundlichen Lächeln fort. »Ich werde Delia Bescheid sagen.«
Gern nahm Duncan das Angebot an; die Erwähnung von Delia wärmte und versüßte den in Aussicht gestellten Tee.
Aus der Nähe ermaß Duncan erst, wie hoch gewachsen Mr. Ruhemann war; er überragte ihn fast um eine Handspanne. Sein außerordentlich markanter Schädel war von weißem Haar gerahmt. Er stand jetzt in seitlicher Beleuchtung und hätte ein ausdrucksvolles Porträt abgeben können. Aus dunklen Augen begegnete ihm ein ruhiger, konzentrierter Blick.
»Mr. Munro, wie finden Sie unser Atelier?«, wollte er wissen.
»Es hat wunderbar helles und gleichmäßiges Licht. Hier würde ich gern arbeiten. Mr. Thompson, mein Maltechniklehrer, hat mir davon vorgeschwärmt.«
»Vielleicht meinte er gar nicht diesen Raum, sondern mein Privatissimum, das ich Ihnen jetzt vorführen werde.«
Ihm folgend durchschritt Duncan zwei Türen und kam über einen kurzen Gang und eine Treppe in einen überaus lichten kleinen Anbau mit einer gläsernen Längswand und einem halben Glasdach, ähnlich einem Wintergarten.
»Ein Traum!«, fuhr es ihm heraus.
»Nach einigen Jahrzehnten unbeirrter Arbeit bekommt man manchmal einen Lebenswunsch erfüllt. Manche Leute erreichen das in Form eines Rolls-Royce; mein Gefährt steht ganz still und bringt mich in eine innerliche Welt - oder in die nächste Nähe zu dem Elysium, in das die großen Maler hin und wieder Ausflüge im Geiste gemacht haben.«
»Und wer hat dieses Elysium entworfen?«, fragte Duncan.
»Ganz einfach: Mein Bruder, der Architekt ist, hat mich nach meinen Idealvorstellungen befragt. Und Sir Kenneth Clark, vor dem Krieg Direktor dieses Hauses, hat diesen Anbau als seinen Wunsch bei den Trustees durchgesetzt.«
»Und hier konnten Sie sich eine Reihe weiterer Lebenswünsche erfüllen, wie, zum Beispiel, verdunkelte Meisterwerke wieder ans Licht zu holen. Das muss doch viele Tage zum Sonntag machen«, stellte Duncan mit Begeisterung fest.
»Das tut es auch. Und das helle Licht von oben ist etwas ganz Besonderes, das einem Restaurator seine Entscheidungen leichter macht.«
»Vielleicht könnte ich zu Hause auf dem Land einen Teil unserer Gärtnerei zum Atelier umbauen, das würde ähnlich aussehen«, überlegte Duncan.
»Natürlich! Sie können sich die Zeiten nicht mehr vorstellen, in denen ich froh war, wenn ich meine Arbeiten in solchen Glashäusern ausführen konnte. Das war im letzten Krieg, als die National Gallery und die anderen Museen ihre Schätze aufs Land ausgelagert hatten.«
»Wo waren diese Auslagerungsorte?«, fragte Duncan neugierig.
»Überall, meinst in Schlössern und Landhäusern, zum Beispiel in Wales oder Schottland.«
»Auch in Glasgow?«
»Gerade dort. Natürlich nicht im Stadtbereich, aber rundherum in der wunderschönen Hügellandschaft. Mir fiel dort die Organisation der Gemäldeauslagerung zu. Nach einer Rundfrage bei den Besitzern geeigneter Landhäuser - diese konnten sogar Wünsche äußern - haben wir die Werke standesgemäß in einem alten Rolls-Royce angeliefert«.
»Sagen Sie bloß, die Giorgiones und die Tizians hingen bei den Leuten in den Wohnzimmern an der Wand.«
»Natürlich! Nur ein Teil wurde in besonderen Lagerräumen in den Kisten belassen. Für stabiles Klima und Schutz vor Diebstahl waren die Salons der großen Häuser das Sicherste. Es war dort zumindest immer Personal in der Nähe. Und ich hatte statt Galerieinspektionen ausgedehnte Visitationsfahrten zu machen.«
»Ich nehme an, Sie hatten gut zu tun. Die Strecke London-Glasgow war sicher unter Kriegsbedingungen nicht zu verachten.«
»Nein, nein! Nicht von London aus. Meist lebte ich in den Highlands in Farmhäusern. Mal größer, mal kleiner. Dazwischen auch wieder in herrschaftlichen Räumen, da ich meinen Arbeitsplatz immer wieder verlegen musste, um den weitverstreuten Bildern nachzuziehen. Die Glasgower Zeit verbrachten wir in einem Dorf am Rande der Trossachs.«
»Und hat man Ihnen auch Bilder für die eigenen vier Wände gegönnt?«
»Und ob. Ich bekam die, die übrig geblieben waren. Rembrandts große Leinwand mit dem Geschlachteten Ochsen zum Beispiel hing lange in unserem Wohnzimmer. Bei unserem kargen Licht war dieses Bild jedoch so dunkel, dass wir es durch van Goghs Sonnenblumen ersetzten, die mir die Tate Gallery zum Dublieren der Leinwand zugeschickt hatte.«
»Und das alles haben Sie in Gewächshäusern durchgeführt?«
»Zwischen den Tomaten. Diese Art von Ateliers hatte nämlich neben dem Licht noch einen großen Vorteil: Sie waren von der Heizölrationierung ausgenommen, weil dort Obst und Gemüse reifen musste. So hatten wir es die ganze Zeit schön warm. Und warm genug muss es sein, wenn man so empfindliche Gäste beherbergt, wie ich es zurzeit hier tue.«
Ruhemann ging zur anderen Fensterecke und drehte die dort hingeschobene Staffelei samt dem großen Bilde darauf herum.(wird fortgesetzt)

Artikel vom 10.12.2004