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Die Eisbär-Polizei vertreibt
die weißen Eindringlinge

An der West Hudson Bay in Kanada suchen 1200 Tiere nach Beute

Von Heike Schmidt
Churchill (dpa). Der Eisbär fletscht furchterregend seine großen Raubtierzähne. Mit schnellen Schritten kommt er immer näher. Dabei hatte er gerade eben durchs Fernglas noch so drollig ausgesehen, mit niedlichen schwarzen Knopfaugen, kuschelig warmem Fellplüsch und tapsigen X-Beinen. Es gibt noch mehr als tausend von diesen Tieren, hier an der West Hudson Bay in Kanada am Polarkreis.

Plötzlich stürmt der monströse Fleischfresser entschlossen vorwärts - auf riesigen Pranken, die mit tödlich scharfen Klauen besetzt sind. Nur noch wenige Meter ist der Koloss vom »Tundra Buggy« entfernt. Und plötzlich scheint der zum geländegängigen Safari- Vehikel umgebaute Militärlaster mit den mannshohen Profilreifen nicht mehr wie eine uneinnehmbare Festung, wie eine Zivilisationsoase in der Schneewüste, komfortabel ausgestattet mit Plumpsklo und Propanofen. In dieser überdimensionierten Blechkonserve sitzen die Insassen wie in der Falle: Sardinen in der Büchse. Ob Eisbären ihre spitzen Hauer wie einen Dosenöffner benutzen können?
Unvermittelt verlangsamt der Polarräuber nun seinen Angriffsgalopp und schleicht sich langsam an das Touristenvehikel heran. Er stellt sich auf die Hinterbeine, stützt die Vorderpfoten an den Reifen ab und reckt die Schnüffelnase. Die Buggybesatzung hält den Atem an. Dann bleckt der Eisbär seine Zähne, streckt die schwarze Zunge heraus und beginnt genüsslich an dem dicken Reifenprofil zu knabbern. Lakritzfarben sind die Räder, und nach der Fahrt durch etliche Schlammpfützen glänzen sie glitschig. Auf einmal ist es allen klar: Die Gummireifen erinnern den Eisbären an seine Leibspeise. Doch eine speckige Ringelrobbe hat der arme Hungerleider seit Monaten nicht mehr zwischen die Zähne gekriegt.
Insgesamt gibt es nach Schätzungen des Canadian Wildlife Service noch zwischen 22 000 und 27 000 Eisbären auf der Welt. Davon sind mehr als 15 000 in Kanada zu Hause. Jenseits des Polarkreises können die Jäger ihrer Lieblingsbeute ganzjährig am Nordmeerrand nachstellen, zwischen Packeis und Treibeis, da wo die Seehunde regelmäßig an ihren Atemlöchern Luft schnappen müssen. Doch die 1200 Eisbären von der West Hudson Bay sind im Hochsommer auf Zwangsdiät. Zwischen Ende Juli und Anfang August beginnt die Saure-Gurken-Zeit. Dann taut die Bucht für drei bis vier Monate auf.
Der Küstenstreifen am Rande der Arktis, nahe dem 963-Seelen-Nest Churchill in der kanadischen Provinz Manitoba, ist eine der drei weltweit wichtigsten und größten Kinderstuben für die weißen Bären. Darum hat Kanada hier 1996 den etwa 11 000 Quadratmeter großen Wapusk Nationalpark eingerichtet. Churchill, die selbst ernannte »Eisbären Hauptstadt der Welt« und nur mit einer zweitägigen Zugreise oder per wackeligem Propeller-Flugzeug erreichbar, liegt am Südzipfel des Gebiets, wo Eisbären gerade noch das ganze Jahr leben können - recht oder schlecht.
Ziemlich genau zwischen Churchill und dem Schutzgebiet liegt die örtliche Müllkippe. Wenn die Fettrücklagen der Eisbären wie jetzt fast aufgezehrt sind, ist die Deponie ein verlockender Tummelplatz für die ausgehungerten Tiere, die sich immer öfter sogar bis zu den windschiefen Holzhäusern und Wohncontainern vorwagen, um den Abfall der Wohlstandsgesellschaft gleich vor Ort zu durchwühlen. Manche dringen sogar vorwitzig bis in die Wohnstuben vor. »Neulich hatten wir hier einen frechen Einbrecher«, erzählt Park-Ranger Kelsey Eliasson. »Der hat sich doch glatt einen Karton Hundefutter aus der Vorratskammer geholt und ins Wohnzimmer geschleppt, wo er den Inhalt dann gemütlich verspeist hat.« Wie gut, dass der Hausbesitzer gerade nicht daheim war, denn Begegnungen zwischen Mensch und Eisbär sind nicht ungefährlich.
Darum ist 675-Bear (2327) die wichtigste Telefonnummer in Churchill. Es ist der 24-Stunden-Notruf der »Polar Bear Police«. Regelmäßig macht die Eisbär-Polizei ihre Runden durch den kleinen Ort. Und besonders nachts, wenn die grünen Nordlichter am Himmel tanzen und sich die weißen Freibeuter am liebsten anschleichen, gellen oft Schreckschüsse durch die arktische Stille, die die wilden Eindringlinge vertreiben sollen. In den meisten Jahren werden mehr Störenfriede aufgegabelt, als im Eisbär-Kittchen untergebracht werden können. Um Raum für neue vierbeinige Insassen zu schaffen, werden die betäubten Tiere nach Nordwesten ausgeflogen.
Insgesamt 149 Mal startete der Helikopter mit seiner Eisbär-Fracht in einem darunter hängenden Netz letztes Jahr. »So viele waren es nie zuvor«, sagt Richard Romaniuk vom Ortsbüro der zuständigen Naturschutzbehörde Manitoba Conservation. Bis Mitte November 2004 waren es immerhin 75. Und die Saison ist ja noch nicht zu Ende. Nur selten kehren diese Bären noch im selben Winter nach Churchill zurück. Und spätestens, wenn die Hudson Bay gefriert, werden alle eingekerkerten Gesellen auf dem Eis freigelassen. In den letzten Jahren ist die Anzahl von Churchills »Problembären« stetig gestiegen. 2000 wurden nur 149 gezählt. Drei Jahre später waren es schon 317. Schuld ist wahrscheinlich die globale Klimaerwärmung. Die Herbstmonate waren deutlich wärmer als gewöhnlich, das Eis gefror erst spät.

Artikel vom 01.12.2004