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Gericht rügt Arbeitsämter

Urteil: Behörden legen Meldefrist nach Kündigung zu eng aus

Von Andreas Kolesch
Bielefeld/Berlin (WB). 1701 Arbeitslosen aus Ostwestfalen-Lippe ist im Oktober das Arbeitslosengeld um insgesamt 260 000 Euro gekürzt worden, weil sie die Melde-Auflagen des Arbeitsamtes nicht eingehalten hatten. Die Betroffenen können wieder hoffen: Das Sozialgericht Berlin hat solche Kürzungen gestern als verfassungsrechtlich bedenklich eingestuft.

Wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Verfahren ließen die Berliner Richter in zwei Fällen unmittelbare Revision beim Bundessozialgericht zu. Bislang gibt es noch keine höchstrichterliche Entscheidung zu dieser Hartz-Regelung.
In den umstrittenen Fällen geht es um Abzüge, die Arbeitslosen bei verspäteter Meldung bei der Arbeitsbehörde auferlegt werden. Seit dem 1. Juli 2003 müssen Beschäftigte laut Gesetz »unverzüglich« das Arbeitsamt informieren, wenn sie absehen können, dass ihr Arbeitsverhältnis aufgelöst wird. Die Einbuße beim Arbeitslosengeld beträgt sonst bis zu 1500 Euro. Gegen diese Kürzung hatten bereits in der Vergangenheit zahlreiche Betroffene geklagt.
Das Berliner Sozialgericht gab gestern unter anderem der Klage einer ehemaligen Empfangssekretärin statt, die die Reduzierung ihres Arbeitslosengeldes um 210 Euro nicht hinnehmen wollte. Sie hatte sich knapp acht Monate vor ihrer Entlassung beim Arbeitsamt gemeldet. Nach Auffassung der Behörde hätte sich die Frau aber schon 48 Tage eher melden müssen - nämlich sofort nach Kenntnis ihrer drohenden Arbeitslosigkeit. Die Frau hatte jedoch in der Zeit zwischen der Ankündigung der Entlassung und der Meldung beim Arbeitsamt noch Überleitungsangebote geprüft.
Nach Ansicht des Berliner Gerichts hat die Frau deshalb nicht grob fahrlässig gehandelt. Das Gericht ist sogar der Auffassung, dass eine Frist von drei Monaten ausreichend gewesen wäre.
Ganz anderer Auffassung sind die Arbeitsämter. »Unverzüglich«, also am besten noch am Tag der Kündigung, müssen sich dem Hartz-Gesetz zufolge Arbeitslose melden. Pro Verspätungstag zieht das Arbeitsamt je nach Einkommens-Klasse sonst 7 bis 50 Euro täglich vom Arbeitslosengeld oder der Arbeitslosenhilfe ab - und das für bis zu 30 Arbeitstage.
Als verspätet gelten Arbeitslose nach bisheriger Rechtsauffassung sogar dann, wenn sie eine befristete Arbeitsstelle antreten, ohne den voraussichtlichen letzten Arbeitstag dem Arbeitsamt sofort zu melden. Das gilt auch dann, wenn sie eine Verlängerung des Jobs bereits in Aussicht, aber noch keinen schriftlichen Vertrag haben.
Seit Inkrafttreten des Hartz-Meldegesetzes im Juli 2003 waren nach Angaben des Bielefelder Arbeitsamtes bundesweit 400 000 neu gemeldete Arbeitslose von Kürzungen betroffen. Die Arbeitsämter behielten wegen dieser Melde-Verstöße insgesamt 178 Millionen Euro ein. AZ: S77 AL 4561/04

Artikel vom 30.11.2004