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Bürokratie erdrückt Pflege

4000 Vorschriften verschlingen einen Großteil der Pflegegelder

Von Reinhard Brockmann
Bielefeld (WB). Papierkram und Vorschriften verschlingen nach Schätzungen 40 Prozent der jährlich 30 Milliarden Euro Pflegekosten. Expertin Angelika Gemkow fragt sich: »Wollen wir die Menschen pflegen oder die Bürokratie?«

Trotz 980 Gesetzen und Erlassen sowie 3000 Vorschriften für die Pflege hätten viele alte Menschen Druckgeschwüre, erhebliche Ernährungsprobleme, litten unter Fehl- und Mangelernährung oder Austrocknung im Heim oder auch in der Pflege zu Hause. Der in Vorbereitung befindliche Abschlussbericht der Landtagsenquête-Kommission »Zukunft der Pflege« dokumentiere erhebliche Fehlentwicklungen, sagte die CDU-Landtagsabgeordnete Gemkow (Bielefeld), die der 15-köpfigen Kommission vorsitzt.
Doppel- und Mehrfachprüfungen durch 40 verschiedene Institutionen verschärften letztlich die Überlastung der Pflegekräfte und die Vernachlässigung der hochbetagten Menschen. Gemkow bezeichnet die Pflegedokumentation als wichtig und notwendig, sieht aber erhebliche Vereinfachungsmöglichkeiten »Es wird viel zu viel geschrieben, mit dem Ziel, sich abzusichern, wenn etwas passiert.« Heimaufsichten, Medizinischer Dienst der Krankenkassen, Pflegekassen und Pflegereinrichtungen müssten sich dringend auf ein einheitliches Konzept für die Dokumentation einigen.
Vor allem fehle es an der gezielten Untersuchung, »wo das Geld bleibt und wie die Wirkung des eingestezten Geldes ist«. Nur so viel sei klar: Die überbordende Bürokratie in der Pflege koste genau das Geld, das für Demenzbetreuung, Nachtdienste und die Entlastung der Angehörigen fehle.
Nach Berechnungen des Verbandes Deutscher Alten- und Behindertenhilfe (VDAB) werden bis zu 40 Prozent der Arbeitszeit für Schreibtischarbeit aufgewendet. Mitarbeiter empfänden das als Regelungswut. Auch Angehörige, in deren Familie ein Pflegefall neu eintritt, verbrächten die ersten Tage mit zahlreichen Formalitäten und Behördengängen, bevor sie sich der wirklichen Pflege zuwenden könnten.
Allein in NRW gibt es 500 000 pflegebedürftige Menschen und 180 000 Pflegekräfte. Die Angst, im Alter zum Pflegefall zu werden, ist nach einer Allensbach-Umfrage gleich hoch wie die Furcht vor Arbeitslosigkeit. Mit zunehmender Alterung der Bevölkerung steigt auch die Pflegebedürftigkeit.
Nach Erkenntnissen der Enquête-Kommission, deren Bericht im März 2005 vorliegt, kann mit vorausschauender Politik dennoch die sonst notwendige Verdoppelung der Heimplätze bis 2040 vermieden werden. Hauptproblem sind dabei Alte ohne Familienanschluss in Großstädten. Dem müsse mit Quartiersmanagement und aktivem Zugehen der Pflegekräfte auf die völlig allein stehenden Menschen begegnet werden, fordert Gemkow. »Alt und einsam: Das ist einer der größten Risikofaktoren für Pflegebedürftigkeit.«
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Artikel vom 24.11.2004