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Das Wort zum Sonntag

Von Pfarrer Hans-Jürgen Feldmann


Auf dem Pfeiler einer Eisenbahnbrücke ist ein Graffito zu lesen: »Ich habe nie an ein Leben nach dem Tode geglaubt. Jetzt wünsche ich es dir und mir.« Welch stechender Schmerz und welche inbrünstige Sehnsucht sprechen aus einer solchen Aufschrift! Nicht schwer zu erraten, was sich dahinter verbirgt. Bevor dieser Satz auf den nackten Beton gesprüht wurde, muß ein Todesfall einen Menschen völlig erschüttert und aus der Bahn geworfen haben. Jemand der ganz eng zu ihm gehörte, den er vielleicht über alles geliebt hat, ist nicht mehr da, kehrt nicht zurück, hinterläßt eine klaffende Lücke, die sich nie mehr schließen wird.
Vermutlich war dieser oder diese noch recht jung. Nicht jedes Sterben und jeder Abschied werden als so grausam und bitter empfunden. Manchmal war es das kleinere Übel gegenüber einem Siechtum, das sich unerträglich in die Länge gezogen und auch die Kräfte der Zurückbleibenden fast völlig aufgezehrt hatte. Manch Sterbender hatte es selber gewünscht, die Augen endlich schließen zu können und heimgehen zu dürfen.
In manchen Gemeinden werden im Gottesdienst des morgigen Ewigkeitssonntags die Namen derer verlesen, die in dem zurückliegenden Kirchenjahr verstorben sind. Viele von ihnen sind uralt geworden, aber es gibt auch womöglich Kinder darunter, Jugendliche und Erwachsene, von denen die Leute zu sagen pflegen: »Das war noch kein Alter.«
Jedes Sterben ist anders. Das hängt ab von der Todesart: plötzlich und unerwartet, oder nach langem Leiden, nach einem zähen, aber nicht zu gewinnenden Kampf gegen eine unheilbare Krankheit oder nach nur kurzem Krankenlager. Woran ein Mensch glaubt, wirkt sich ebenfalls in seinem Sterben aus. Aber auch jede Trauer ist anders, je nach dem, wie man sich verstanden hatte, ob man bewußt voneinander Abschied nehmen konnte oder vermied, darüber zu sprechen, ob man auseinandergerissen wurde, ohne sich noch ein Wort, ein versöhnendes vielleicht, hatte sagen können.
In den meisten Fällen aber - auch bei sehr alten Menschen - bringen Sterben und Abschied die Erfahrung, daß sich das eigene Dasein verändert hat, nicht wieder so wird wie früher, daß da ein Stück des eigenen Lebens unwiderruflich mitgestorben ist, ein für allemal dahin. »Ich habe nie an ein Leben nach dem Tode geglaubt. Jetzt wünsche ich es dir und mir«, sprüht ein wahrscheinlich noch junger Mensch auf den Pfeiler einer Brücke und läßt alle, die es lesen, an seinem Schmerz und an seiner Sehnsucht teilhaben. Vorher war das kein Thema für ihn - wie es für manch anderen bis ins hohe Alter.
Irgendwann aber läßt es sich nicht mehr verdrängen; dann hat es zugepackt und sich festgesetzt; dann ist es da. Der Schmerz und die tiefe, oft lange Trauer ist aber nur die eine Seite der Medaille; die Sehnsucht und die Hoffnung, es möchte etwas Größeres geben als den Tod, ein Leben, dem dieser nichts mehr anhaben kann, die andere. Sie bildet das notwendige, das die Not wendende Gegengewicht.
Zwei Stimmen, die einen beflügeln, sich mit dem Tode nicht abzufinden und diesen nicht länger für eine unüberwindliche Grenze zu halten: Die eine kommt aus dem Inneren des Menschen, aus seiner Liebe: »Jetzt wünsche ich dir und mir ein Leben nach dem Tode.« Die andere aber kommt von außen auf ihn zu. Sie kommt von Gott, der jeden Menschen von Anfang an geliebt hat und der niemals aufhören wird, ihn zu lieben.
Sie ist jedoch nicht etwa Gottes Antwort und Reaktion auf ein vorbildlich gelebtes Leben oder auf bestimmte menschliche Leistungen. Sie ist vielmehr verbunden mit Jesus Christus. Er lebte unser Leben und starb unseren Tod, weil Gott auf der Seite jedes Menschen ist. Und wie Gott ihn vom Tode erweckt hat, so wird auch niemand von seiner Liebe geschieden, nicht einmal durch den Tod.

Artikel vom 20.11.2004