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Ein Leben im Sitzen - ganz normal

Susanne Steinmetz ist gelähmt und unterrichtet im Gymnasium am Waldhof


Von Michael Schläger
und Bernhard Pierel (Foto)
Bielefeld (WB). »Der große Unterschied zu früher ist, dass mein Leben jetzt im Sitzen stattfindet«, sagt Susanne Steinmetz (45). Seit Mai unterrichtet die querschnittsgelähmte Lehrerin Geschichte und Evangelische Religion am Gymnasium am Waldhof. Für sie ist das nichts Besonderes, sondern »ganz normal.«
Am Donnerstag in der dritten Stunde steht der Geschichte-Leistungskurs in der Jahrgangsstufe 13 auf ihrem Stundenplan. Es geht um die deutsche Nachkriegszeit. Jasmin und zwei ihrer Mitschülerinnen halten ein Referat über die Geschichte der DDR. Susanne Steinmetz hat die Unterrichtsstunde daheim am Rechner vorbereitet. An die Tafel kann sie nichts schreiben. Ihre »Tafelbilder« entstehen mit Hilfe von Notebook und Beamer auf einer Leinwand. »Für uns ist der Technikeinsatz ein Vorteil«, sagt Schülerin Lisa. Mit Hilfe des PC könne alles optisch ansprechender gezeigt werden. Nala erzählt, der Lehrerwechsel mitten in der Oberstufe sei für den Kurs ein viel wichtigeres Thema gewesen als die Behinderung der »Neuen«. »Daran hatten wir uns schnell gewöhnt«, ergänzt Jasmin.
Es geschah im März 1994 während eines Skiurlaubs in den Schweizer Alpen. Susanne Steinmetz fuhr auf einem Verbindungsweg zwischen zwei Pisten, als sie mit ihren Skiern so unglücklich stürzte, dass sie gegen eine Baumwurzel prallte. Die Diagnose der Ärzte in einer neurochirurgischen Klinik in Lausanne: Die Querschnittslähmung war »komplett«. »Es war von Anfang an klar, dass ich nicht mehr würde laufen können.« Sie lebte zu dieser Zeit mit ihrem Mann in London, der am dortigen Deutschen Historischen Institut arbeitete. Nach der sechsmonatigen Rehabilitation in Deutschland kehrte sie dorthin zurück. »Schon in der Reha habe ich mir vorgenommen, weiter in meinen Beruf zu arbeiten.«
Wieder in Deutschland, bekam sie eine Stelle an einem Gymnasium in Lüdenscheid. Als ihr Mann zur Universität Bielefeld wechselte, musste sie sich hier eine neue Schule suchen. Das Gymnasium am Waldhof kam in Frage, weil es über einen Fahrstuhl verfügt, der alle Etagen miteinander verbindet. Hier hat sie jetzt eine halbe Stelle, unterrichtet wöchentlich 14 Stunden. »In der fünften Klasse sind die Kinder besonders offen«, ist ihre Erfahrung. »Die fragen, was passiert ist und ob ich das überhaupt schaffe.«
Sie schafft es. Nur manchmal möchte sie ein Fußgänger sein, wie Susanne Steinmetz die Menschen nennt, die nicht im Rollstuhl sitzen. »Da kann man mal spontan auf Schüler zugehen, hinten in einer Klasse für Ruhe sorgen, wenn's mal unruhig ist.«
Die Medien drückten oft auf die Tränendrüse, wenn sie über das Leben behinderter Menschen berichteten, meint Susanne Steinmetz. »Natürlich ist für mich manches beschwerlicher im Alltag.« Aber sie habe das Glück gehabt, dass sie eine »Geistesarbeiterin« sei. »Ich konnte weitermachen. Ein Gärtner in meiner Situation könnte das nicht.«

Artikel vom 19.11.2004