26.11.2004 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

»Man lernt zu denken
und zu strukturieren«

Plädoyer für die Mathematik - Ringvorlesung


Bielefeld (sas). Einstein war ohne jeden Zweifel eine Geistesgröße. Und ohne jeden Zweifel unterstellt man dem Begründer der Relativitätstheorie mathematische Fähigkeiten. Dennoch stammt von ihm das Zitat: »Sorge Dich nicht um Deine Schwierigkeiten in Mathematik. Ich kann Dir versichern, dass meine noch größer sind.« Michael Röckner hat seine Freude an dem Satz, der eine Wand seines Büros ziert. Er ist an der Universität Bielefeld Professor für Mathematik.
Röckner gehört zu denen, die regelmäßig Oberstufen-Klassen der Gymnasien aufsuchen, um für ihr Fach zu werben, der zudem in diesem Wintersemester mit seinem Kollegen Günter Graumann eine Ringvorlesung organisiert hat, die sich besonders an Lehrer und Schüler, aber auch an jeden Interessierten richtet. Ihr Ziel: die Bedeutung seines Faches für die Biologie oder Chemie zu verdeutlichen.
Denn irgendwie gilt die Mathematik gemeinhin als schwierig, als Quälerei, als Wissenschaft, die sich l'art pour l'art mit Problemen befasst, die kaum jemanden interessieren und als Fach, in dem man mit Nicht-Wissen kokettieren kann. Dabei kann sie, ist Röckner überzeugt, Spaß machen - wenn man sie mit Herz lehrt. Sinnvoll und nützlich ist sie ohnehin.
Was das Grundsätzliche in der Mathematik ist, meint Röckner, könne man besonders schön an den Naturwissenschaften zeigen: »Die Mathematik bringt Fleisch an die Knochen, sie bringt Ordnung in die Unordnung und hilft mittels Theorie das Chaos zu verstehen.« Deshalb auch befassen sich die Vorträge der Ringvorlesung beispielsweise mit mathematischen Forschungen zu Baumdiagrammen oder mit Prozessen der Strukturbildung bei der Entstehung von Arten oder Kristallen.
Das schlechte Image seines Faches sieht Röckner in der Lehrerausbildung (die erst seit einigen Jahren Zwischenprüfungen als Rückkoppelung vorschreibt) und in den von vielen Mathematiklehrern kritisierten neuen Lehrplänen begründet. »Außerdem hat die Schule das Fach auf ein sehr formales Level gebracht. Mathematik ist dort vor allem Volumenstoff, die Schüler rechnen zu viel mit großen Zahlen. Das aber macht die Mathematik nicht aus.« Wichtiger sei, meint Röckner, die Schreibweise des Faches vom Grunde her zu verstehen, auch zu verdeutlichen, das eine Formel nur die kompakte Sprechweise der Mathematik sei. »Aber jede Formel hat auch eine Seele.«
Wo überall Mathematik genutzt wird, macht Röckner an seinem Spezialgebiet, der Wahrscheinlichkeitstheorie, klar. »Eine Anwendung ist zum Beispiel die Analyse, welche Mechanismen wie bei der Zinsentwicklung greifen.« Die Mathematik, schwärmt der Mathematiker, liefere Modelle für Klimaforscher, Physiker oder Chemiker, die allesamt die Natur erklären wollen. »Eine reine Servicewissenschaft ist sie nicht, aber es ist wichtig, sich nicht in Problemen zu verlieren, sondern als Theoretiker die Anwendung im Auge zu haben.« Nützlich sei die Mathematik aber letztlich für jeden, weil sie fürs Leben schule, betont er: »Man lernt das Denken, man lernt, komplizierte Sachverhalte zu ordnen und zu strukturieren, sie zu gewichten und systematisch vorzugehen!«
Der nächste Vortrag der Ringvorlesung zur Mathematik findet Dienstag, 7. Dezember, 17.15 Uhr, in Raum V 2 - 205 der Universität statt. Prof. Ellen Baake, Technische Fakultät, spricht über die Frage »Sind Mutationen spontan oder gerichtet? Das Luria-Delbrück-Experiment.«

Artikel vom 26.11.2004