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Das Wort zum Sonntag

Von Pfarrer Dr. Dr. Markus Jacobs


Die kurze, eher hingeworfene Bemerkung eines Kindes hat mich sehr nachdenklich gemacht. Am Donnerstag dieser Woche, dem 11. November, fand in unserer Pfarrei der große Martinszug statt. Alles neigte sich bereits dem Ende zu (Laternenumzug, kurzes Schauspiel, Pferd, Bläser, LiederÉ), und wir standen um das große Feuer. Die Kinder knabberten gebackene Martinsgänse, und die letzten zwei Lieder wurden gesungen. Da kam ein Mädchen, ich kannte es nicht, auf mich zu und sagte: »Das Martinslied singe ich sehr gerne. Wir haben es in der Schule sogar auswendig gelernt.« Gerade stimmte die Trompete neuerlich dieses Lied an, und wie zum Beweis stellte sie sich neben mir hin und schmetterte aus vollster Kinderbrust »Sankt Martin, Sankt MartinÉ ritt durch Schnee und Wind«.
Doch bei der letzten Strophe drehte sie sich ganz entgeistert und auch ein bisschen enttäuscht um und verstummte. Wir anderen sangen das Lied zu Ende. Das Mädchen hatte mich weiter angeschaut und sagte dann mit einem etwas traurigen Unterton in der Stimme: »Die letzte Strophe haben sie uns nicht beigebracht, die kann ich nicht.«
Sie werden sich vermutlich fragen, was denn daran so nachdenklich macht? Ein Kind kann die fünfte Strophe eines Liedes nicht, na und? Die fünfte Strophe des Martinsliedes ist aber genau diejenige, die den religiösen Hintergrund der ganzen »Story« enthält. Und man muss nicht viel Phantasie haben, um zu vermuten, dass deshalb diese Strophe in der Schule bewusst weggelassen worden sein könnte. Denn das Teilen eines Mantels ist ja für sich genommen ein pädagogisch wertvolles Beispiel. Da teilt ein Mann in einer kalten Winternacht seinen Mantel mit einem frierenden Bettler. Und es wäre schon viel erreicht, wenn die Kinder in der Schule untereinander etwas solidarischer würden: wie viel kleine Streitereien um Süßigkeiten, Spielsachen... ließen sich vermeiden. Deshalb verstehe ich all jene Lehrerinnen und Lehrer, welche die Gelegenheit beim Schopfe ergreifen, eine solche einprägsame Szene des Teilens sich in die Köpfe der Kinder »hineinsingen« zu lassen.
Das scheinbar »kleine« Problem ist jedoch: Für diesen später »heilig« genannten Martin von Tours war dies eigentlich nur der Aufhänger für das sich anschließende Wesentliche. Das Entscheidende für ihn war nämlich eine Gotteserfahrung in der folgenden Nacht. Dort kommt ihm das Gesicht des Bettlers noch einmal in Erinnerung und plötzlich sieht er dieses Gesicht sich verändern zum Antlitz des gekreuzigten Jesus. Diese Erfahrung überwältigt ihn innerlich, Sekunden werden zur Ewigkeit...
Martin will diese Art Vision festhalten, es geht nicht. Aber sie hat sein Leben verändert. Das Teilen des Mantels ist nur der Aufhänger für eine Gotteserfahrung, die für Martin lautete: In diesem Bettler bin ich Christus begegnet. Martin sah dies als eine Konkretisierung des Ausspruchs Jesu: »Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.« (Mt 25,40). Er selbst wurde Mönch, gründete ein Kloster...
Zurück zu dem Mädchen. Dieses Mädchen hatte vorher das szenische Spiel zum Leben des Heiligen Martin mit jungen Schauspielern miterlebt. Sie hatte etwas von dem Geschehen zwischen Gott und Mensch hinter dem Mantelteilen verstanden. Deshalb war sie wahrscheinlich fast enttäuscht, dass sie das vorher gar nicht gewusst hatte - auch die entsprechende Liedstrophe hatte man ihr nicht beigebracht.
Wenn Kinder es lernen, zu teilen, ist dies für sich schon gut! Wenn dazu das Beispiel eines bekannten Christen hilft, ist dies ganz sicher im Sinne Gottes! Wenn Kinder aber wissen sollen, warum man so etwas nach tausendsiebenhundert Jahren noch erzählt, dann nur wegen der darin geschehenen Gotteserfahrung. Deshalb bleibt für mich die Frage, ob das Verschweigen der eigentlichen Kraftquelle des Martin nicht bedeutet, unseren Kindern Gott vorzuenthalten?
An diesem Abend hatte ich den Eindruck, als wenn das enttäuschte Mädchen auf seine kindliche Weise eine ähnliche Empfindung gehabt hätte.

Artikel vom 13.11.2004