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In 20 Jahren, schätzt Müller, werde der Anteil der übergewichtigen Kinder und Jugendlichen mindestens verdoppelt sein. Ihnen drohen als Folge Diabetes und Gallensteine, Arthritis, Bluthochdruck, Herzkrankheiten und Schlaganfall. Schon heute ist der jüngste Patient Deutschlands, der an der so genannten Altersdiabetes leidet, noch nicht einmal im schulpflichtigen Alter. Sehenden Auges steuert die Gesellschaft in eine Katastrophe - für das Individuum und die Volkswirtschaft.
»Das Problem ist, dass Wissen noch keine Verhaltensänderung schafft«, sagt Müller. Die Eltern übergewichtiger Kinder wissen, dass Ernährung, Bewegung und die Veranlagung eine Rolle spielen. Und während sie letzteres nicht beeinflussen können, wären die ersten beiden Punkte wohl zu ändern. »Die Kinder greifen heute zu oft zu den leicht verfügbaren Kohlehydraten: Cola, Saft, Saftmixgetränke und Fanta, Süßigkeiten und Pommes«, sagt Müller - wobei er nichts gegen Pommes frites oder Pizza hat, sondern insgesamt den Verfall der Essgewohnheiten beklagt. »Es wird schnell und billig eingekauft, die Zubereitung von Speisen, die Arbeit, die das Putzen von Gemüse und Salat macht, wird nicht gewürdigt.« Essen, bedauert er, sei immer weniger ein gesellschaftliches Ereignis, für das man zusammenkomme und sich Zeit nehme. Vielfach gehe jeder an den Kühlschrank und bediene sich unkontrolliert selbst. »Deutlich zu kurz kommt dabei der Verzehr von Obst und Gemüse. Es fehlt die Ausgewogenheit.«
Während Kalorien also im Übermaß zugeführt werden, wird zuviel Bewegung vermieden - fast, als würden die Kinder Churchills Motto »No sports« kennen. »Es fehlt an der Alltagsbewegung«, sagt Müller: Die Kinder werden zur Schule, zum Sport und zu Freunden gebracht, es gibt Rolltreppen und Aufzüge. »Das Umfeld macht es oft nicht leichter: Völkerball auf der Straße zu spielen, ist fast unmöglich: Alles ist zugeparkt.« Und dass in der Nachbarschaft genug Kinder sind, die sich spontan zum Spielen treffen, sei längst nicht mehr die Regel: »Die einfachen Bewegungsmöglichkeiten und der Spielraum sind eingeschränkt.« Da ist es ungleich leichter, am Computer Fußballer laufen zu lassen oder als Actionheld Verbrecher zu jagen.
Ein Vorbild sind auch die Erwachsenen selten: »Unsere Gesundheitskosten sind enorm durch die Folgen der Ernährung, des Rauchens, des Alkohols und durch mangelnde Bewegung - alles Faktoren, die man beeinflussen könnte. Viele der Menschen, die heute beim Orthopäden oder Diabetologen sitzen, hätten es selbst in der Hand gehabt«, konstatiert der Kinderarzt. Zu spät ist es aber nie, bewusster zu leben und sich zu bewegen.
Seine Forderung: Die nachwachsende Generation müsse geschult werden - und zwar möglichst schon im Kindergartenalter. »Aber der ernsthafte politische Wille dazu fehlt.« An den Schulen, so Müller, müsse Hauswirtschaft unterrichtet werden, es müsse Suchtprävention und viel mehr Sportlehrer für täglichen Sportunterricht geben. Wenn eine Woche der Mathematikunterricht ausfalle, beklagten sich die Eltern - beklagt Müller. Wenn es Sport oder Kunst treffe, seien sie gleichgültig. Und schließlich ist es nicht nötig, dass an Schulkiosken süße Riegel verkauft werden.
Wenn Kinder erst einmal viel zu viele Pfunde mit sich herumschleppen, ist es schwer, sie wieder auf ein Normalmaß zu schrumpfen: »Bei all' den Schulungsprogrammen, die zum Teil sehr aufwendig und teuer sind, aber wenig nachgefragt werden, liegt die Erfolgsquote lediglich bei 40 Prozent.« Sich von liebgewonnenen Gewohnheiten zu verabschieden fällt eben schwer - wie es auch nicht jeder schafft, das Gelernte in den Alltag zu übernehmen.
Dabei ist der Leidensdruck bei den Kindern und Jugendlichen groß: »Vom Lebensgefühl her sind dicke Kinder so schlecht dran wie Kinder mit Tumorerkrankungen!« Sie werden gehänselt, sie werden verlacht und sie ziehen sich als Folge gerne aus der Öffentlichkeit zurück. »Dicke gelten auch häufig als inkompetenter - was wiederum später ihre beruflichen Chancen vermindert.«
Das Problem ist schlicht, dass es einen langen Atem braucht, um abzuspecken: Sich nur einige Tage zusammenzureißen, bringt ja nichts. Eine Ernährungsschulung will den dicken Kindern daher auch Zusammenhänge erklären. »Zum Beispiel den, dass der Körper Insulin ausschüttet, wenn man viel Süßes ist. Als Folge ist man leicht unterzuckert - und hat wieder Appetit auf Süßes.« Es sei eben ein schwerwiegender Irrtum zu glauben, dass man Herr seines Körpers sei: »Der Organismus hat Regulationsmechanismen, auf die man keinen Einfluss hat, er wird hormonell gesteuert.« Einfache Zusammenhänge, betont Müller, gebe es also nicht - und daher auch keine einfachen Lösungen. Wichtig sei: Die Bequemlichkeit (und Versorgungsmentalität) vieler Menschen zu durchbrechen, durch Bewegung ein anderes Körpergefühl zu vermitteln und wieder eine Kultur des Essens zu pflegen. »Schnelle Änderungen gibt es aber nicht, Ausdauer ist gefragt.« Alle Verhaltensänderungen funktionieren nur in kleinen Schritten, für die man sich wirklich Zeit - und wenn es ein Jahr ist - nehmen und vielleicht die Unterstützung andere Betroffener suchen sollte. Ganz wichtig: Die Bewegung in den Alltag einbauen und eher mal zum Apfel als zum Schokoriegel greifen.

Artikel vom 13.11.2004