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Gerhard Henschel las aus seinem »Kindheitsroman«.

Tagebücher aus der
Pubertät in den 70ern

Autor Gerhard Henschel amüsiert im »Miners«


Bielefeld (bri). Erinnern Sie sich an die Partys im Hobbyraum, die um 22 Uhr spätestens vorbei waren? An die »Todfeinde« in der dritten Klasse, die alle Jüngeren und Schwächeren drangsalierten? An Schnittchen vor dem Fernseher und an Klassensprecherwahlen? Wenn Sie sich noch erinnern, tun sie das sicher mit einem lachenden und einem weinenden Auge - und Sie haben etwas verpasst.
Denn bereits am vergangenen Mittwoch las Gerhard Henschel im Rahmen der »Miner's Poetry Nights« aus seinem neuesten und viel beachteten Buch »Kindheitsroman« und nahm die Zuhörer mit auf eine Reise zurück in die Zeit zwischen Sandkasten und Pubertät. Martin Schlosser, der Ich-Erzähler, lebt mit seinen Eltern und seinen drei Geschwistern in einem Vorort von Koblenz am deutschen Eck. Er berichtet, was in den 70er Jahren für einen Jungen von acht bis 13 Jahren wichtig war.
Schmunzelnd verweist Gerhard Henschel auf die frappierende Ähnlichkeit von Martin Schlossers Leben mit seinem eigenen. Auch er wohnte mit Eltern und drei Geschwistern bei Koblenz, bis die Familie 1975 nach Meppen umzog, was ihn hart traf. Vermutlich aber habe das Heimweh nach Koblenz die Arbeit an seinem »Kindheitsroman« erleichtert.
Wobei Henschel nicht nur auf seine eigenen Erinnerungen zurückgreifen konnte, sondern nach einigen Überredenskünsten auch die »Pubertätstagebücher« seiner älteren Schwester erhielt. Die allerdings seien gar nicht so spannend gewesen, fügt der Autor verschmitzt hinzu.
Im vollbesetzten »Miners« am Gehrenberg lauschen die Zuhörer Gerhard Henschel alias Martin Schlosser nun, wie er sich lakonisch und witzig an die Stationen seiner Kindheit erinnert. Und man muss gar nicht unbedingt in den 70er aufgewachsen sein, um ihm dorthin zu folgen. Zwar rufen Songtitel wie »In the summertime« von »Mungo Jerry« und die Erwähnung des lebensecht wirkenden Porzellanschäferhundes, der als Zierde im Wohnzimmer »wacht«, nicht bei allen Anwesenden erkennendes Lachen hervor, aber daran, wie man eine schlechte Schulnote vertuschen will, an den ersten (versuchten) Kuss oder daran, wie reich man sich mit 20 Mark in der Tasche fühlte, erinnert sich wohl jeder im Café.
Gerhard Henschel liest an diesem Abend für den »Kreis 74 Straffälligenhilfe Bielefeld e.V.« Bereits am Abend zuvor habe er in der JVA Bielefeld-Brackwede I gelesen, erzählt Norbert Schaldach vom »Kreis 74«. Henschel sei ein »Ehrenamtlicher« - zumindest für diese zwei Tage. Die Lesungen versteht der Autor als Geburtstagsgeschenk an den Verein, der in diesem Jahr sein 30-jähriges Bestehen feiert. Damit gehört Henschel zu den rund 80 Künstlern, die sich bisher in verschiedensten Formen für die Straffälligenhilfe engagiert haben und deren »Ruhm auf den Kreis abstrahlt«, wie Schaldach erklärt.
Er lese heute »nur die freudlosen Passagen«, bemerkt Henschel mit einem Blick auf die Bemerkung eines Kritikers, aber selbst die Geschichten über Ladendiebstahl und verregnete Osterferien in Bielefeld-Sennestadt wollen keine gedrückte Stimmung aufkommen lassen. Im Gegenteil, die Erinnerungen an die Damen bei Woolworth, die wegen eines Spielzeugautos »so einen Aufstand machen«, und an Onkel Edgar, der als Do-it-yourself-Handwerker natürlich allein das Dachgeschoss auf den Bielefelder Bungalow setzt, rufen bei den Zuhörern anhaltende Heiterkeit hervor.
Und so vergeht der Abend, gespickt mit kurzen Geschichten aus anderen Büchern aus dem reichhaltigen Werk von Henschel, wie im Flug. Quasi als Zugabe verweist der Autor auf seine Leidenschaft für Zungenbrecher und trägt auch gleich ein paar in verschiedenen Sprachen vor. Falls also noch jemand einen schönen Zungenbrecher kennt, kann er ihn gern an Gerhard Henschel weiterreichen. Und vielleicht gibt es dann auch schon bald eine neue Lesung. Etwa in diesem Sinne: Der Kaplan klebt Plakate!

Artikel vom 11.11.2004