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Nach dem Wecken in
Reih und Glied nach unten

Ausstellung zur Kinder- und Jugendhilfe in Bibliothek


Gütersloh (rec). Sonnenaufgang im Kinderheim: »Das erste Werk ist das Wecken. Kaum hat man gerufen, schwupp, da sitzen sie auch schon aufrecht da, um Gott zu loben. Dann kommt die große Wäsche und das Bettenmachen an die Reihe. Alles ist fertig, so wird angetreten und in Reih und Glied gehts nach untenÉ«
So schildert ein Diakon das Leben in einem evangelischen Kinderheim um die Jahrhundertwende. Hüpften einige ältere »Zöglinge« nicht so fröhlich aus dem Bett, gab es Strafen und eine »stramme, fast militärische Disziplin« im Umgang. Die Schilderung ist Teil einer Ausstellung in der Stadtbibliothek, die gestern eröffnet wurde. Auf 13 Stoffbahnen wird die Geschichte der Kinder- und Jugendhilfe dargestellt. Darüber hinaus stellt sich der Fachbereich Jugend, der in diesem Jahr sein 80-jähriges Amtsbestehen feiert, auf vier weiteren Bahnen vor. Die Ausstellung bietet viel Text und kleine Bilder. Um sie aufzunehmen, lehnt man sich am besten beim Lesen an das Geländer vor der Stoffbahn an oder man vereinbart eine Führung, unter % 0 52 41/82 23 64.
Die Mühe lohnt sich. Die von Bärbel Bitter entworfene Ausstellung widmet sich auch den Umständen, die damals zur Verwahrlosung von Kindern beitrugen. Lange Arbeitszeiten und karger Lohn ließen den Familien Mitte des 19. Jahrhunderts gar keine Wahl, ihre Kinder in die Arbeit einzuspannen. Wer dazu nicht in der Lage war, lungerte herum. Die herumstreunenden Kinder wurden als eine Gefahr begriffen und auch so behandelt. Die Kinder in dem streng geführten evangelischen Kinderheim hatten noch Glück - häufiger übernahm ein Handwerker die Betreuung, der in den Kindern mehr oder weniger billige Arbeitskräfte sah.
Das wachsende Elend junger Menschen führte zu neuen Gesetzen - und zur Bildung neuer Behörden wie das Gütersloher Jugendamt im Jahre 1924. Erst die Nazis nahmen die Jugenderziehung jedoch konsequent in staatliche Hand. Ihre Einrichtungen hießen Hitlerjugend, Bund Deutscher Mädchen, Arbeitslager, Jugendlager und - in für sie hoffnungslosen Fällen - Konzentrationslager. Bis zum Gütersloher »Bündnis für Erziehung« war es auch nach dem Krieg noch ein langer Weg. Die alten Erziehungsideale »Zucht und Ordnung« wirkten lange nach.

Artikel vom 06.11.2004