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Das Wort zum Sonntag

Von Pfarrerin Sigrid Kuhlmann


Liebe Christen,
jetzt kommt wieder die Zeit der stillen, dunklen Tage. Tage des Gedenkens, der Erinnerung, der manchmal noch ganz frischen Trauer. Hinter uns liegen Allerheiligen und Allerseelen, vor uns der Volkstrauertag, der Buß- und Bettag und der Ewigkeitssonntag.
Trauer-
Süßigkeiten
In diese Zeit hinein möchte ich Ihnen eine Andacht von Fred Sobiech weitergeben, die ich sehr schön fand, und die uns Hoffnung machen will in dunklen Tagen der Trauer.
»Unsere Tochter Johanna ist 6 Jahre alt. Vor einigen Tagen fand sie folgenden Brief. Er steckte in unserem Briefkasten, und ihr Name stand drauf: »Zum Tode von Nelson Preuß veranstalten wir am Samstag einen Trauerzug, der durch den ganzen Ort geht. Wir würden uns freuen, wenn ihr euch uns anschließen würdet. Wenn möglich mit schwarzen Sachen, weil es ja ein Trauerzug ist. Wir treffen uns um 14 Uhr. Es wäre nett, wenn ihr zwei Blumen mitbringen könntet. Zum Schluss umzäunen wir das Grab und legen Blumen darauf. Viele Grüße.... Daniela, Alexandra.«
Daniela und Alexandra sind Nachbarskinder. Etwas älter als Johanna. Nelson ist ihr Lieb-lingskaninchen. Es ist gestorben. Am nächsten Tag setzt sich ein sonderbarer Trauerzug in Bewegung. Fünf Kinder mit ernsten Mienen. Fünf bis zehn Jahre alt, kleine Pappschilder in der Hand: Wir trauern um Nelson. So ziehen sie los. Durch unsere Straße, die Siedlung entlang. Bis zum Marktplatz. Leute sprechen die Kinder an: Was ist denn mit euch los? Seid ihr traurig? Ist jemand gestorben? Ein älterer Herr ist so gerührt, dass er den Kindern fünf Euro schenkt - »für Trauersüßigkeiten...« Und die werden natürlich auch gekauft. Irgendwann dann endet der Trauerzug der Kinder im Garten, und Nelson, das Kaninchen, wird beerdigt. Blumen schmücken das Grab. Die Kinder sind traurig und lutschen Süßigkeiten, Trauersüßigkeiten. Am Abend erzählt mir Johanna von dem Trauerzug durch den Ort, den Begegnungen, dem Grab im Garten, den Trauersüßigkeiten. »Die haben wir bekommen, weil wir wegen Nelson so traurig waren...« Als Johanna eingeschlafen ist, geht mir ein verrückter Gedanke durch den Kopf: Ist nicht das, was die Theologen »Auferstehung« nennen, auch so eine »Trauersüßigkeit«? Sie macht erträglich, was wir im Moment nicht ertragen und tragen können. Und schmeckt. Schmeckt nach mehr. Schmeckt nach der Hoffnung, die uns seit Ostern begleitet.«
Im Predigttext für den morgigen Sonntag heißt es: Denn unser keiner lebt sich selber, und keiner stirbt sich selber. Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum: wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn. Denn dazu ist Christus gestorben und wieder lebendig geworden, dass er über Tote und Lebende Herr sei.
»Ich schließe die Augen«, schreibt F. Sobiech weiter, »und sehe, wie Alexandra, Daniela und Johanna mit ihren Schildern über den Marktplatz laufen, ihre Traurigkeit zeigen, dem älteren Herrn begegnen, verstanden und beschenkt werden. Sich Trauersüßigkeiten kaufen. Glücklich. Welch ein Geschenk! Welch ein Geschmack! Nur für Kinder? Leise schleiche ich mich aus dem Zimmer.«
Möge Sie alle die Hoffnung auf die Trauersüßigkeit »Auferstehung« trösten und begleiten.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen einen gesegneten Sonntag,

Ihre Sigrid Kuhlmann

Artikel vom 06.11.2004