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Ein Buch als
letzte Antwort

Dutroux-Opfer Dardenne berichtet

Brüssel (dpa). Sie nennt ihn Dreckskerl, Lügner, Monster, Widerling, Schwein, Sadist und einen feigen Psychopathen. Das hat seinen Grund. Denn der so Bezeichnete ist Marc Dutroux, Kinderschänder und mehrfache Mädchenmörder aus Charleroi.

Und die junge Frau, die auf diese Weise mit Belgiens bekanntestem Verbrecher abrechnet, heißt Sabine Dardenne. Sie hat das Grauen in Dutrouxs Keller als Zwölfjährige erlebt, hat überlebt, und beschreibt die 80 unendlich erscheinenden Tage ihrer Gefangenschaft nun in dem auch in Deutschland erschienenen Buch »Ihm in die Augen sehen - Meine verlorene Kindheit« (Droemer).
Das Schwerste war die Erinnerung an die Einzelheiten. »Man will sich nicht ständig an diese Dinge erinnern«, sagt die 21-Jährige. Im Buch lässt sie »diese Dinge« dennoch ein letztes Mal Revue passieren. Sabine Dardenne sieht die Aufzeichnung ihrer Leidensgeschichte auch als einen Akt der Befreiung. »Es hat mir wirklich gut getan, mich zu leeren«, meint die zierliche Frau. »Die Geschichte wird mein ganzes Leben lang bleiben«, weiß Dardenne. Aber die Blicke und Fragen der Leute, denen sie jeden Morgen im Zug von Tournai nach Brüssel begegnet, möchte sie mit ihrem Buch ein für alle Mal beantworten.
Jahrelang hat die Heranwachsende in der Anonymität gelebt, alle Interviews abgelehnt. Mit dem Prozess im Frühjahr, ihrer bewegenden Zeugenaussage und den Fotos in allen Zeitungen war das vorbei. Nun kommt das Buch. Aber danach möchte die 21-Jährige nur noch ihre Ruhe haben: »Die Interviews sind mit dem heutigen Tag beendet«, sagt sie.
Ihr Buch soll künftig an ihrer Stelle sprechen. Sie erzählt darin von ihrer Entführung, von der Folter ihrer Gefangenschaft in Dutrouxs Kellerverlies. Sie spricht von ihren Schuldgefühlen, weil sie den Besuch einer Freundin forderte und Dutroux daraufhin ihre spätere Mitgefangene Laetitia Delhez entführte. Sie berichtet, wie die Suche nach Laetitia auch zu ihrer Befreiung führte, und beschreibt ihre Gefühle während des großen Dutroux-Prozesses fast acht Jahre danach.
Die vielleicht stärksten Passagen aber beschreiben das Verhältnis des Mädchens zur Mutter nach der Heimkehr. »Ich hatte überlebt, und es war für die Eltern schwierig, mich da leibhaftig zu sehen«, berichtet die junge Frau. Es sei schwierig, »die Überlebende eines Massakers zu sein«.
Sie hoffe, dass ihr Buch ein Nachdenken auslöst. Nicht bei ihrem Peiniger: »Er wird es nicht verstehen können. Seine Sicht der Dinge ist zu verschieden von meiner.« Aber bei jenen, die über die Freilassung von Wiederholungstätern entscheiden: »Es wäre schlimm, wenn sich nichts änderte«, sagt die 21-Jährige, »denn dann wären vier Mädchen umsonst gestorben und zwei andere müssen ihr ganzes Leben damit leben.«

Artikel vom 05.11.2004