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Durch finstere Gassen
schleicht der Wahnsinn

Murnau-Gesellschaft leuchtet in die Tiefen der Seele

Von Matthias Meyer zur Heyde
Bielefeld (WB). Erotisch gekitzelt wurden die Besucher des letzten Film-&Musik-Festes der Bielefelder Murnau-Gesellschaft. In diesem Jahr dürften den Cineasten Schauer ganz anderer Art den Rücken hinunterlaufen: »Wahnsinn« heißt das Motto des am 5. November beginnenden Festivals.

Gespensterwölfe heulen, Pferde scheuen, obwohl kein Mensch zu sehen ist. Vielleicht aber schleichen da Vampire umher? Die sind ja in den Karpaten zu Hause . . . Mit Friedrich Wilhelm Murnaus »Nosferatu«, jener Symphonie des Grauens aus dem Jahr 1922, die die Erstverfilmung von Bram Stokers Schauerroman »Dracula« (1897) bedeutete, wird in der Oetkerhalle das Festival eröffnet.
Murnau, der 1888 in der Bielefelder Rathausstraße - neben dem späteren »Capitol«-Kino - geboren wurde, hat dem Expressionismus die Tür zum Kinosaal geöffnet. Er richtete die Kamera auf die irreale Welt jenseits des Bewusstseins, auch überschritt er die Grenze des Wachseins, um das Phantastische aufzuscheuchen. Und doch gilt Murnau als Romantiker unter den deutschen Regisseuren der 20er Jahre - sein Vampir (Max Schreck) dürstet nicht so sehr nach Blut, sondern versucht mit Hasenzähnchen und Spinnwebfingerchen sein Feinsliebchen festzuhalten.
Wer sich keine Romantik ohne Landschaftsidyllen vorstellen kann, bitte sehr: Wie andere Filmemacher das Leben beobachten, so schaut Murnau die Elemente an, spiegelnde Reflexe auf den Wassern, Steine als Schattenwerfer, flirrende Luft. Manchmal atmen seine Feld-, Wald- und Wiesen- bilder tatsächlich puren Frieden. Entspannt lehnt man sich im Kinosessel zurück . . .
. . . und zuckt hoch, wenn aus diesen Stilleben dann doch der Horror hervorbricht. In seinem erst 1975 wiedergefundenen »Brennenden Acker« (1921/22) klappt der Tod die Augenlider auf und sieht nach, wen er findet in den Häusern missgünstiger Dörfler, im eiskalten Weiher, ja, sogar unter der Erde, im Ölfeld.
Aber wie die Romantiker ihre hingebungsvollen Seufzer im Angesicht der Schönheit in der Ironie brachen, so tupft auch Murnau feinen Humor auf seine Filme. Dieser geistvolle Witz - man denke nur an die Besetzung Mephistos mit dem pausbäckigen Emil Jannings (»Faust«, 1926) -Ê zupft seine Figuren am Mantel, gerade rechtzeitig, um sie vor dem Sturz in den Abgrund der Kolportage zu bewahren. Bela Lugosi und Christopher Lee, Vincent Price, zuletzt Gary Oldman und Brad Pitt hatten dienstbare Geister, die ihnen das Bett in die Gruft stellten - Max Schreck dagegen, der bemitleidenswerteste (und der einsamste) aller Untoten, wuchtet seinen Sarg eigenhändig durch die verödeten Gassen der schlafenden Stadt.
Nicht einmal wenn es das Publikum unbedingt verlangte (in den USA, wo er zwei Jahre lang filmte), gönnte Murnau dem Publikum mehr als einen kurzen Blick. Filme waren für ihn Bilder-Kunst, und diese Bilder fischte er mit der Kamera aus den Tiefen der menschlichen Seele. Dort unten, diese Lektion hatte die Kriegsgeneration gründlich gelernt, ist es dunkel, und in die lichtlose Finsternis der Hölle muss auch Murnaus Titelfigur »Satanas« (1920) niederfahren, weil er in der Welt nichts Gutes fand, das ihn hätte erlösen können.
Gucken Sie also lieber genau hin, bevor Sie im »Astoria« den Kinositz herunterklappen, oder möchten Sie, dass Ihnen »Die schwarze Natter« in die Wade beißt? Drehen Sie sich langsam und unauffällig um, wenn Sie wissen wollen, ob der finstere Schatten in der Saalecke Sie wirklich nur aus der Distanz beobachtet (»Meshes in the Afternoon«). Und wer garantiert Ihnen eigentlich, dass in der Oetkerhalle nicht inzwischen »Das Cabinet des Dr. Caligari« eingerichtet wurde, komplett mit dem mordverdächtigen Somnambulen in der Kiste?

Artikel vom 30.10.2004