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Von Baumheide aus der
Aufstieg ans Burgtheater

Bielefelder Nuran Calis will mit eigenem Stück reüssieren

Von Thomas Bertz
(Text und Fotos)
Bielefeld (WB). Das Leben von Nuran Calis ließe sich wunderbar in Platidüden erzählen. »Vom Tellerwäscher zum Millionär«. - Nun ja, nicht ganz, aber aus der »Bronx auf die Bretter, die die Welt bedeuten«, das passt ebenso wie »Aus Liebe zum Theater«. Gerecht wird das dem spannenden Lebenslauf des gebürtigen Bielefelder Regisseurs und Autors jedoch nicht. Zur Zeit arbeitet Nuran Calis am Wiener Burgtheater an seinem aktuellen Stück »Dogland«.

Gemeinsam mit acht anderen deutschsprachigen (noch) unbekannten Autoren - alle waren Sieger eines Wettbewerbs des »Deutschen Literaturfonds e.V.« - und mehreren Dramaturgen hat Calis seit zwei Wochen in einer Werkstatt am Stück gearbeitet. Teile werden am Sonntag vorgestellt. Sollte es bei Publikum und Kritik gut ankommen, wird es sogar ins Programm der weltweit bedeutenden Bühne aufgenommen.
Das wäre für den 28 Jahre alten Bielefelder nichts Neues, denn seine Teilnahme an der Autorenwerkstatt im vergangenen Jahr am Hamburger Thalia-Theater war bereits erfolgreich. Als »dialogstarkes, Jargon plapperndes, cooles Szenestück« feierte »Die Welt« CalisÕ
erstes Bühnenstück »Dog eat Dog - Raus aus Baumheide«. Von »groovigem Theater« bis zur „Mischung aus Shakespeare und Quentin Tarantino“ lauteten weitere Reaktionen.
Dabei war Nuran Calis der Weg eines erfolgreichen Theater-Menschen nicht unbedingt in die Wiege gelegt worden. Aufgewachsen im Bielefelder Arbeiterviertel Baumheide - das er jetzt immer wieder als Symbol nutzt - zwischen rivalisierenden Jugendbanden. Die Eltern Putzfrau und Gießer: All das war weit weg von Glamour und Premierenfeiern auf Deutschlands Bühnen.
Trotz Deutsch-Leistungskurs und eines Abiturs mit Notendurchschnitt von 1,3 an der Gesamtschule Schildesche: Kultur und Literatur passten noch nicht in die Welt des jungen Mannes. Lieber arbeitete er im Bielefelder Nachtleben an den Türen diverser Diskotheken. »So bin ich in verschiedene Sub-Kulturen abgetaucht«, kann Calis, der als begeisterter Boxer an den gefährlichen Nebenjob kam, der Arbeit als Türsteher Positives abgewinnen. Selbst heute vertritt er gelegentlich noch Freunde an den Toren der Nachtclubs.
Einfach war dieses Leben nicht. »Immer wieder musste ich mich entscheiden, zwischen Legalität und Illegalität«, drohte Nuran CalisÕ Leben zu kippen. Immer mehr Zweifel kamen in ihm auf: »Irgendwann denkst du, dass kann es nicht sein, es muss mehr geben.« Der Tod des Vaters - eine Zäsur im Leben. »Es hat sich alles total verändert«, sagt der Regisseur und Autor heute.
Wie in einem Drama eines großen Dichters tritt in diesem Moment die Liebe ins Leben von Nuran Calis und verändert alles. Der »Arbeitersohn« Nuran verliebt sich in »Vera« - eine »Bürgerliche«. Seine »Vera« nimmt ihn mit in das Bielefelder Stadttheater, wo Schillers »Kabale und Liebe« Nuran Calis beeindruckt. »Das hat mich total geflasht«, beschreibt er den einschneidenden Moment. Eine neue Leidenschaft war erwacht. Die Literatur fing seine Trauer auf, ein neuer Berufswunsch war gefunden.
Das Regie-Studium an der renommierten Otto Falckenberg-Schule in München sowie Assistenzen bei den Münchener Kammerspielen und dem Züricher Schauspielhaus zeugen von den Ambitionen. »Eine Arbeit war das Ticket zur nächsten«, weiß Nuran Calis.
Zum Beispiel hat er mit einer Gruppe jugendlicher Hip Hopper, die er in Jugendzentren »gecastet« hat, am Münchener Volkstheater »Romeo und Julia« aufgeführt. Neben der Arbeit in Wien ist Calis in Hannover gerade dabei gemeinsam mit Jugendlichen ein Stück zu schreiben, um es dann mit ihnen aufzuführen. »Ich mache lieber spannende Projekte, beiße mich durch«, reizt es ihn, unbekanntes Terrain zu betreten, statt auf festen und sicheren Assistenzstellen zu sitzen.
Das zeigt sich auch beim weiteren Betrachten des - obwohl Nuran Calis erst 28 Jahre alt ist - spannenden und abwechslungsreichen Lebenslaufs: Nach dem Studium kehrte er den klassischen Bühnen zunächst den Rücken und drehte Musikvideos für Hip-Hop-Bands, wie die »Massiven Töne«. Doch Hip Hop war und ist mehr als Musik oder Arbeit für den gebürtigen Bielefelder, es ist eine Lebenseinstellung, die ihn täglich stützt.
»Scheitern gehört zum Leben, aber jeder hat es selbst in der Hand. Beweg Dich«, das sind die bedeutsamen Faktoren, die den Rhythmus von Calis Lebens bestimmen. Er lebt den Hip Hop. Auch das nimmt er aus dem Sprechgesang mit: »Sei niemals satt.«
Und Nuran Calis hat noch jede Menge Hunger: Schon jetzt plant er sein nächstes ambitioniertes Projekt: Ein Kino-Film ist bereits in Planung. Das Drehbuch für die Mutter-Sohn-Geschichte »Die Augen meiner Mutter« hat er geschrieben. Nur finanziert ist der Film, der vom Bayerischen Rundfunk unterstützt wird, noch nicht ganz. Calis, der auch Regie führen wird, ist zuversichtlich, dass es klappt. Das Naturtalent Nuran Calis kann sich nicht entscheiden zwischen der Aufgabe des Regisseurs und des Autors: »Ich liebe die Abwechslung. Wenn ich mich zu lange mit der einen Seite beschäftige, dann fühlt sich das andere vernachlässigt«, schlagen ganz »faustisch« zwei Seelen in der Brust die einen Ausgleich suchen.
Produzentin des Films ist übrigens Gloria Burkert, die auch Caroline Links »Nirgendwo in Afrika« produziert hat. Sie brachte Nuran Calis schon ganz nah dran einen unerfüllbar-erscheinenden Traum: den Oscar. Einen ganzen Vormittag durfte er das goldene Männchen im Arm halten. Wenn er davon erzählt, funkeln seine braunen Augen, als hätte er ihn selbst gewonnen. An solchen Erfolg wagt er gar nicht zu denken: »Das ist utopisch.«
Real hingegen ist seine aktuelle Arbeit am Wiener Burgtheater. »Dogland« heißt das Stück und ist eine Art Fortsetzung des Erfolgstücks »Dog eat Dog«. Nach acht Jahren treffen sich drei Freunde wieder und erkennen, dass sie ihre Träume nicht verfolgt haben. »Das Stück handelt von meiner Generation. Darin setze ich mich mit Deutschland, meinen Freunden und meiner Familie auseinander«, schildert Nuran Calis kurz den 2. Teil seiner »Heimattrilogie«.
Heimat, das ist mittlerweile München. Eine Rückkehr nach Bielefeld schließt er aber aus dienstlichen Gründen nicht aus. »Ich wachse mit den Aufgaben und nicht mit den Häusern«, könnte das Bielefelder Stadttheater durchaus in einer Reihe stehen mit den Brettern, die die Welt bedeuten. Für Nuran Calis wäre es kein Schritt zurück. Aber ein Schritt in Richtung seiner Wurzeln.

Artikel vom 23.10.2004