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Mit »Roon« korrekt gekleidet

»Wappen-Wäsche« aus dem Haus Kayser reichsweit ein Verkaufsschlager

Von Matthias Meyer zur Heyde
Bielefeld (WB). Jemand sagt »Roon«, und Sie antworten: preußischer Kriegsminister ab 1859. Jemand erwähnt »Mars La Tour«, und Sie ergänzen: Schlachtenort im Krieg 1870/71. Glückwunsch! Was Sie garantiert nicht wissen: »Roon« war nur fünf Zentimeter hoch.

Des Rätsels Lösung: Hinter heute etwas martialisch anmutenden Bezeichnungen wie »Spichern« (noch eine Schlacht aus dem deutsch-französischen Krieg; 6 Zentimeter), Herrschernamen (»Großer Kurfürst«; 5 Zentimeter) und - Tusch! - »Moltke«, dem mit sieben Zentimetern Größten der »Marke Germania« verbergen sich Hemdkragen aus der Zeit um 1900. Zu »Blücher« gab's mit »Vorwärts« auch passende Manschetten - Spitzenprodukte aus bestem deutschem Maco-Baumwollstoff und zwar aus dem Hause Kayser.
Kaiser Wilhelm (6,5 Zentimeter) schien das Reich herrlichen Zeiten entgegenzuführen, der zwangspensionierte Bismarck (5 bis 7 Zentimeter) schmollte seit fünf Jahren auf Gut Friedrichsruh, da gründete Wilhelm Kayser sen. am 1. Juli 1895 die »1. Bielefelder Herrenwäschefabrik mit Dampf- und elektrischem Betrieb«. Das Stadtarchiv hütet eine Akte über diesen »Dampfbetrieb«: 1906 bittet Kayser höflich darum, seine neue Dampfkesselanlage genehmigen zu wollen, und obwohl Ingenieur Schwehr Fehler in der Statik des Schornsteins findet, endet die Prüfung im Sinne des Fabrikanten. Die hochmoderne Anlage kommt aus Brackwede, von der Firma K. & Th. Möller. »Höchste Dampfspannung: 10 Atm.«
Kaum ein Jahr später droht Kayser Ungemach: Er hat seine Näherinnen, »sämtlich im Alter über 16 Jahre« zu lange arbeiten lassen - ohne Genehmigung. Das Schöffengericht verurteilt ihn am 9. März 1907 zur Zahlung von fünf Mark, »eventuell« (ersatzweise) zu einem Tag Gefängnis. In der Näherei wurde normalerweise bis 20 Uhr gearbeitet, auf Antrag an den Magistrat auch bis 22 Uhr.
Was die Bielefelder Fabrik verlässt, wird reichsweit (später auch im Ausland) als »Wappen-Wäsche« sehr geschätzt. Verkaufsschlager sind die »weichen Rips- und Piqué-Oberhemden und natürlich die Serviteurs und Chemisettes. Das waren Leibchen ohne Rückenteil und ohne Ärmel, die unter dem Anzug getragen wurden und aussahen wie ein vollständiges Hemd.
Nach dem Ersten Weltkrieg liebten es die Herren sportlich; Kaysers Hemden hießen jetzt »Hockey« oder »Turf«. Der feurige Galan schlüpfte in »Aetna«, der schnelle Liebhaber in »Bahnfrei«. 1939 lieferte Kayser auch Damenblusen, Nachtwäsche und Taschentücher; Niederlassungen existierten in Essen, Hamburg, Leipzig, Berlin und in Königsberg.
Etwa 400 Mitarbeiter hatte die Firma damals, und viele von ihnen standen vor den Trümmern ihrer Existenz, als die Fabrik beim verheerenden Angriff am 30. September 1944 schwer getroffen wurde. Die Näherinnen Erna Biedermann (geb. Elsenpeter), Else Dietrich (geb. Wittenbreder), Edith Juknus (geb. Lütgert) und Erika Wiebusch (geb. Reuter) hatten an dem Tag ihre bestandene Gesellenprüfung feiern wollen - Edith Lütgert saß beim Friseur unter der Trockenhaube und hörte den Alarm nicht, Erika Reuter wurde im Schutzraum gegenüber der Keksfabrik Stratmann und Meyer (SUM) verschüttet, aber gerettet. Noch heute trifft sich das muntere Quartett regelmäßig und geht auf große Fahrt.
Nach dem Tod des Seniorchefs übernahm Wilhelm Kayser jun. (1903-1980) die Geschäfte. Der 1975 mit dem Bundesverdienstkreuz geehrte Unternehmer, der zahlreiche Ehrenämter bekleidete, steuerte die Firma durch mancherlei Fährnisse. 1952 rauschte es im Blätterwald, als sich ein Vorstandsmitglied mit Frau und Sohn, mit zwei Autos, vor allem aber mit mindestens 800 000 Mark nach Südafrika absetzte. Man munkelte etwas von Erbzwistigkeiten, die Oberfinanzdirektion Münster ermittelte . . .
Als das Wirtschaftswunder sich dem Ende zuneigte, streckten größere Textilfirmen nach der Wäschefabrik Kayser ihre Fühler aus. »Nach und nach wurden die Näherinnen auf andere Betriebe verteilt«, erinnert sich Erika Wiebusch. Sie selber hatte nur bis Dezember 1951 arbeiten dürfen: »Kurz zuvor hatte ich geheiratet, und Doppelverdiener waren gesetzlich verboten.« Strenge Sitten.

Artikel vom 22.10.2004