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Hans Kollhoff

»Selbst die größ- ten Schurken
der Geschichte enden oftmals als
Musical-Figuren.«

Leitartikel
Gespenster-Konjunktur

Für Lenin gibt's 'ne Kiste Wodka


Von Rolf Dressler
Selbst unter der Knute tyrannischer Regime entwickeln die Unterdrückten und Drangsalierten einen besonders hintergründigen (Galgen-)Humor. Weit weniger amüsant indes ist es mitanzusehen, wie vordem sogar fürchterlich gepeinigte Menschen plötzlich ein Herz für ihre Peiniger entdecken, lange nachdem sie mit Schimpf und Schande davongejagt worden waren.
Im Windschatten der Tagespolitik erleben wir an verschiedenen Schauplätzen eine gespenstische Wiedererweckung böser Geister, die man für immer in den Tiefen der Geschichte versunken wähnte. Allen voran der vaterländisch-»ruhmreiche« Welt-Revolutionär Wladimir Iljitsch Lenin, der finstere Großverbrecher und abermillionenfache Massenmörder Joseph Stalin und deren ideologischer Ideengeber Karl Marx.
An vielen Orten zwischen Berlin bis und der fernen Pazifik-Küste Russlands werden die teils gigantischen steinernen Statuen dieser Figuren von Bauhöfen geholt und demonstrativ sichtbar wieder aufgestellt. Und offenbar sind dabei weit mehr Leute am Werk als nur ein Häuflein Unverbesserlicher, ein harter Kern von Nostalgikern, die noch immer nichts begriffen haben bzw. begreifen wollen.
Derweil streiten Berufene und Unberufene in Wladimir Putins Russland einer »aufgeklärten Diktatur« wie eh und je über den richtigen Umgang mit Stalin. Andere verkitschen lieber amüsiert die so genannte »gute alte Stalin-Zeit« - weil »die triste russische Gegenwart sie anödet«, wie kürzlich in einer Zeitung zu lesen war.
All das erinnert an eine humorige Anekdote aus der DDR-Zeit. Zwei Freunde aus Leipzig waren einen Tag lang getrennt auf Einkaufsbummel in Moskau. Abends treffen sie sich verabredungsgemäß wieder. »Na, was hast du bekommen?« »Nichts, absolut nichts«, antwortet der andere, »und du?« »Einen Pelzmantel und eine Pelzkappe, und abends war ich noch bei Lenin.« »Was, bei Lenin warst du?! Da stand doch eine endlose Schlange, wie hast du das nur geschafft?« »Och, ich bin in 'nen Laden gegangen und habe zu der Verkäuferin gesagt: Ich möchte bitte zwei Pelzmäntel, einen für Sie und einen für mich. Dann in den nächsten Laden: Zwei Pelzkappen, bitte - eine für Sie und eine für mich. Dann habe ich einen Kasten Wodka gekauft, und damit bin ich am Nachmittag zum Lenin-Mausoleum marschiert. Dort haben mich die Wachsoldaten gefragt: 'Willste rein, oder sollen wir ihn dir raustragen'...?«
PS. Apropos Heldenkult um zweifelhafte Größen der Geschichte: Saddam Hussein mimt, wie man hört, derzeit im Gefängnis den Märtyrer, schreibt über Liebe, Glauben und Opferbereitschaft. Nelson Mandelas Regierungspartei »ANC« soll einst ziemlich eng mit eben diesem massenmörderischen Saddam Hussein zusammengearbeitet haben. Und in Chile verdichtet sich der Verdacht, dass die Polit-Ikone Salvadore Allende insgeheim rassistisches und antisemitisches Gedankengut in sich trug.
Wie das Leben doch so spielt!

Artikel vom 12.10.2005