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Ort der Ruhe
und Besinnung

Schönheit der Natur im Vordergrund

Im Laufe der letzten Jahrhunderte hat sich der Friedhof neben seiner Funktion als Stätte der Ruhe für die Toten immer mehr auch zu einem Ort der Besinnung für die Lebenden entwickelt.

Der Vorläufer des Friedhofs, der mittelalterliche Kirchhof, war ein belebter Ort, an dem gehandelt, geistliches Theater gespielt und sogar Obst angebaut wurde. Da aufgrund der räumlichen Begrenzung des Kirchhofs die Ruhefrist der Toten nur auf wenige Jahre begrenzt war, bevor die Gebeine ins Beinhaus umgebettet wurden, waren grabbezogene Bepflanzungen auf den Gräbern nicht notwendig. Ebenso wenig fand eine Gestaltung des Kirchhofs unter ästhetischen Gesichtspunkten statt.
Zur Zeit der Reformation und verstärkt während der Aufklärung fand ein Umdenken in der Wahrnehmung des Friedhofs statt. Vor allem der Reformator Martin Luther (1483-1546) schrieb dem Friedhof auch eine durchaus weltliche Rolle zu. So sollte der Friedhof für die Lebenden eine Stätte der Besinnung und der Erbauung sein.
Ein erster Schritt in diese Richtung war die Verlagerung der Begräbnisstätten vom Kirchhof vor die Tore der Stadt. War schon im Spätmittelalter Kritik an den hygienischen Verhältnissen und an der wirtschaftlichen Nutzung des Kirchhofs laut geworden, so beschleunigten die großen Pestwellen des 14. und des 15. Jahrhunderts die Anlage von einfach strukturierten Friedhöfen außerhalb der Stadtmauern. Bei ihrer Gestaltung spielten ästhetische oder gar gartenarchitektonische Aspekte kaum eine Rolle; eine systematische Bepflanzung setzte erst allmählich ein.
Der zweite Schritt, der die Friedhofsgestaltung bis in unsere Zeit entschieden geprägt hat, war die sich ändernde Auffassung vom Tod in der Zeit der Aufklärung. Kirchliche Dogmen wurden kritisch betrachtet und die Vorstellung vom Tod als Übergang ins himmlische Leben bezweifelt. Losgelöst vom Versprechen der Ewigkeit bekam der Tod plötzlich etwas sehr Bedrohliches. Um dieser Endgültigkeit ihre Schärfe zu nehmen, trat bei der Friedhofsgestaltung eine ästhetisch gestaltete Parklandschaft mit Bäumen und blühender Rahmenbepflanzung in den Vordergrund.
Die an englischen Landschaftsgärten orientierte Friedhofsarchitektur des 19. Jahrhundert wollte erhebende anstelle niederdrückender Gedanken beim Besucher erwecken. Die Wahrnehmung der Schönheit der Natur sollte im Vordergrund stehen. Dadurch, dass die Gräber in die Parklandschaft oder den Wald eingebettet wurden, trat der Tod hinter die Natur zurück. Der Anblick des Friedhofs wurde für den Besucher erträglicher.
Viele der heute noch bestehenden Friedhöfe haben ihren gestalterischen Ursprung in den Park- oder Waldfriedhöfen des bürgerlichen Zeitalters. Mit ihren breiten Alleen und ihrem alten Baumbestand bilden sie oft neben städtischen Parks die einzigen Naturoasen in einer Stadt.

Artikel vom 30.10.2004