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Tony Marshall wohnt im Klapphaus

Schlagersänger ist Milchmann Tevje in Musicalaufführung »Anatevka«

Von Hans-Joachim Chollet
Paderborn (WV). Anatevka wäre ein längst vergessenes Dorf in den Weiten der Ukraine, gäbe es nicht das gleichnamige Musical von Jerry Bock, das den anheimelnden jiddischen Mikrokosmos in der recht gut besuchten Paderhalle neu erstehen ließ.

Zu Beginn stimmt der Geiger auf dem Dach (»The Fiddler On the Roof«, so der amerikanische Originaltitel) einer russischen Bauernkate, die als Klapphäuschen für die unterschiedlichen Bilder den Wechselrahmen gibt, chagallesk auf die Handlung ein, und das 15-köpfige Orchester führt den heiter-melancholischen Ton weiter - ein durchsichtig anmutender Klang mit instrumental charakterisierenden Effekten.
Mit »Wenn ich einmal reich wär« hat das Musical nur einen Hit, der um die Welt ging, aber seine volkstonnahen Melodien, gespeist aus Elementen der jiddischen, slawischen und kosmopolitischen Musik, heben das Atmosphärische der Szenen hervor und verdeutlichen die aufhebenslose, mit den Widrigkeiten des Lebens fertig werdende Menschlichkeit, die die Original-Geschichte des russisch-jüdischen Dichters Sholem Alechem auszeichnet.
Im Mittelpunkt des Geschehens steht der Milchmann Tevje, der seine fünf Töchter an die »richtigen« Männer bringen will und drei an die »falschen« verliert, und da können auch seine resolute Frau Golde (Anke Lautenbach, auch stimmlich präsent) und die Heiratsvermittlerin Jente nichts machen. Tony Marshall füllt seine dankbare Hauptrolle in jiddischer Sprachfärbung so aus, dass der Schlagersänger in der Figur verschwindet und er sich auch als leiser Schauspieler und Sänger mit aufgerautem Bariton beweisen kann. Seine Zwiesprache mit seinem Gott und seine klärenden, ihn weiter bringenden Selbstgespräche (»Einerseits und andererseits«) werden im Spotlight anschaulich, sein Gottvertrauen überdauert Armut, Erniedrigung und Leid im Revolutionsjahr 1905, das auch Bewegung ins dörfliche »Immer so« bringt.
Im weiteren Verlauf entwickelt die Geschichte ihre Sogwirkung, weiß mit einer grotesken Bettszene zu überraschen und überzeugt mit anrührenden Momenten. Auflockernd die Ballettszenen mit dem Flaschentanz und russischer Tanz-Folklore, stimmungsvoll das Sabbat-Gebet. Alle Mitwirkenden agieren (ohne Mikrofon!) in bedacht dezenten Kostümen: Hier gibt es keinen Prunk, kein auftrumpfendes Finale und auch kein Happyend - nur die Hoffnung auf eine bessere Zukunft fernab von Anatevka: Der verhaltene Schluss verführt zu ebensolchem Beifall, der sich aber kräftigt.

Artikel vom 04.05.2007