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Erst »Held« an der Mauer, dann Eisverkäufer

65 Zuhörer im Lesezeichen fasziniert von den Erinnerungen des Stasi-Offiziers Harald Jäger

Werther (kw). Es war eine Geschichtsstunde der ganz besonderen Art, die die 65 Zuhörer am Montag bei der Lesung des Buches »Der Mann, der die Mauer öffnete« in der Buch-handlung Lesezeichen erlebten. Herausragend waren die Erlebnisse des Protagonisten Harald Jäger, der mit seiner Entscheidung, am 9. November 1989 den Grenzübergang Bornholmer Straße in Berlin befehlswidrig zu öffnen, Geschichte schrieb.

Zunächst gewährt jedoch der Autor des Buches, Gerhard Haase-Hindenberg, spannende Einblicke in das Leben des Harald Jäger. Dieser erlebte als 18-Jähriger den Bau der Mauer mit. Angesichts der Fluchtbewegung und der Schmuggelgeschäfte habe er das »als Erleichterung für die Volkswirtschaft« der DDR empfunden, sagt er im Gespräch anschließend.
So beginnt auch die Lesung von Haase-Hindenberg im April 1962, als Harald Jäger als Postenführer die Flucht einer Frau über die Mauer miterlebt. Fast 28 Jahre später ist Jäger stellvertretender Leiter der Passkontrolleinheit (PKE) und ist überrascht von der Ausreise der Bürger aus der Prager Botschaft. Auch den 40. Jahrestag der DDR im Oktober 1989 und die sich wandelnden Einstellungen Jägers stellt Gerhard Haase-Hindenberg eindrucksvoll dar.
Besonders spannend ist jedoch der Höhepunkt des Buches, als Harald Jäger den Schlagbaum an der Bornholmer Straße öffnete - auf einen Befehl seiner Vorgesetzten wartete er vergeblich. Vorausgegangen war die Äußerung von Politbüromitglied Günter Schabowski zur »unverzüglichen« Öffnung der Grenze. Dass Harald Jäger und Gerhard Haase-Hindenberg auf ihrem Weg nach Bielefeld im Zug gerade diesen Schabowski trafen, war wohl ein besonderer Zufall. Sprechen wollte Jäger mit ihm allerdings nicht.
Viele Fragen stürzen im Lesezeichen auf den Protagonisten des Buches ein. »Zunächst wurde mir gesagt, nur jene Leute rauszulassen, die besonders lautstark ihre Ausreise forderten«, erzählt Jäger von letzten Versuchen der Verantwortlichen, ein kontrollierbares Ventil zu finden. Als er von seinen Vorgesetzen keine klaren Anweisungen erhielt, habe er sich verhöhnt und alleingelassen gefühlt, berichtet Jäger über seine Gefühle. Ein Vorgesetzter habe sogar daran gezweifelt, dass Oberstleutnant Jäger die Situation reell einschätzen könne. »Ich kann gerne den Telefonhörer raushalten«, konterte dieser seinerzeit.
Die Verzweiflung über die Unfähigkeit der Vorgesetzten hatte sich bei dem Oberstleutnant der Staatssicherheit in den letzten Monaten der DDR verstärkt. Gleichwohl blieb Harald Jäger überzeugter Kommunist. Und das änderte sich nach seiner Aussage erst viele Jahre nach der Wende.
Zurück zum 9. November: »Was wäre wenn . . .?« - solche Fragen tauchen an diesem ungewöhnlichen Leseabend immer wieder auf. Wenn er nicht den Schlagbaum geöffnet hätte, wenn eine von anderer Stelle alarmierte Militäreinheit doch noch zum Einsatz gekommen wäre, wenn gar geschossen worden wäre. Die historische Nacht verlief auch durch die richtige Entscheidung des ehemaligen Stasi-Offiziers Jäger glücklich.
Doch hat Harald Jäger sein Verhalten auch selber Glück gebracht? Eher weniger. Denn mit 46 Jahren war die militärische Karriere bei der Stasi beendet, ohne dass sie eine Fortsetzung etwa beim Bundesgrenzschutz gefunden hätte, wie bei vielen seiner MfS-Kollegen. Der Mann, der die Mauer öffnete, wurde stattdessen Eisverkäufer, versuchte eine Ausbildung zum Taxi-Fahrer und wurde eine Zeitlang Zeitungsverkäufer. Heute ist der 64-Jährige bei einem Sicherheitsunternehmen beschäftigt und wartet auf die Rente.
Ob er sich als doch irgendwie als Held fühlt, jetzt, da sogar ein Buch über seine Befehlsverweigerung mit glücklichen Folgen geschrieben wurde? »Nein«, sagt Harald Jäger. »Die Helden am 9. November 1989 standen auf der anderen Seite des Schlagbaums.«

Artikel vom 25.04.2007