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Janies Augen füllten sich mit Tränen. Die Fremde verdarb ihr alles. Alles!
»Wir gehen jetzt in mein Büro und rufen deine Mutter an«, sagte die Dame und dirigierte Janie durch die Glastür hinein in das Maklerbüro. »Setz dich!« Sie wies auf einen von zwei schwarzen Stühlen, die vor einem ebenfalls schwarzen, sehr ordentlich aufgeräumten Schreibtisch standen. Sie selbst nahm hinter ihrem Schreibtisch Platz, griff nach dem Telefonhörer.
»Sagst du mir bitte eure Telefonnummer?«
»Meine Mum ist nicht zu Hause«, flüsterte Janie. Sie hatte eigentlich in ganz normaler Lautstärke sprechen wollen, aber ihre Stimme schien ihr nicht richtig zu gehorchen.
»Wo ist deine Mum?«
»Sie arbeitet.«
»Wo?«
»Ich weiß nicht.«
Die Dame setzte wieder ihren strengen Blick auf. »Ich kann auch gleich die Polizei anrufen, MissÉ Wie heißt du eigentlich?«
»Janie«, murmelte sie.
»Also, Janie, hör mal zu, ich mache mir Sorgen um dich. Du schwänzt die Schule und treibst dich hier aus unerfindlichen Gründen herum - und das bereits zum zweiten Mal, jedenfalls soweit ich weiß. Vielleicht geht das auch schon länger, und ich habe es vorher bloß nicht bemerkt. Ich möchte diese Angelegenheit jetzt klären. Entweder du sagst mir, wie ich deine Mutter oder deinen Vater erreichen kann, oder ich übergebe dich der Polizei. So einfach ist das!«
»Meine Mum arbeitet in einer Wäscherei«, sagte Janie. Die Tränen liefen ihr nun in Strömen über das Gesicht. Sie beugte sich über ihre Schultasche, kramte darin herum und förderte schließlich einen Zettel zutage. »Hier ist die Telefonnummer.«
»Na also«, sagte die Dame. Sie nahm den Zettel und tippte in rasantem Tempo auf der Telefontastatur herum. »Es geht doch!«
»Dass du mir so etwas antust!« Doris hatte sich eine Zigarette angezündet, aber die war schon wieder erloschen, ohne dass sie es bemerkt hatte. Sie stand mitten im Wohnzimmer, noch mit dem weißen Kittel bekleidet, den sie in der Wäscherei immer trug. Ihre Haare waren straff zurückgebunden, kräuselten sich an der Stirn durch die Feuchtigkeit, der sie an ihrem Arbeitsplatz stets ausgesetzt war. Sie sah grau und elend aus.
Aber das tut sie eigentlich immer, dachte Janie.
»Kannst du dir überhaupt vorstellen, wie ärgerlich die Chefin war, weil ich plötzlich wegmusste? In welchen Rückstand die dort jetzt geraten, weil ich ausfalle? Damit schaffe ich mir keine Freunde, verstehst du? Wenn dort das nächste Mal Arbeitsplätze gestrichen werden, sind das genau die Vorfälle, an die man sich dann erinnert. Selbst dir müsste klar sein, wie brenzlig unsere Lage wird, wenn ich meinen Job verliere!«
»Du hättest mich ja nicht abholen müssenÉ«
»Ach ja? Wenn ich einen Anruf bekomme, dass meine achtjährige Tochter die Schule schwänzt und sich auf der Straße herumtreibt - dann soll ich so tun, als ob nichts wäre, und einfach weitermachen? Was hätte ich denn zu dieser affigen Maklerin sagen sollen? Interessiert mich nicht, was mein Kind so treibt, schicken Sie es wieder auf die Straße? Soll ich dir mal was sagen? So, wie die drauf war, hätte die uns das Jugendamt auf den Hals gehetzt. Wärst du gerne am Ende in einem Heim gelandet?«

S
o weit hatte Janie nicht gedacht. Als ihre Mutter mit dem Gesichtsausdruck eines Racheengels in das Büro gestürmt war - einen fast Schmerz erregenden Kontrast zu der Dame im grauen Kostüm bildend - und ihre Tochter so hart an der Hand gepackt hatte, dass es wehtat, da hatte Janie gedacht, dass ihre Lage kaum schlimmer werden konnte. Dass Doris vor Wut fast platzte, hatte man ihr von weitem ansehen können. Janie hatte sich gewünscht, der Boden würde sich unter ihr auftun und ihr die Möglichkeit geben, irgendwohin zu verschwinden, wo sie nicht gefunden werden konnte.
Aber Heim - das klang noch mal ganz anders. Dorthin wollte sie auf gar keinen Fall. In dem Haus, in dem sie wohnten, waren die drei Kinder der Familie unter ihnen ins Heim gekommen, weil ihr Vater immer betrunken war und ihre Mutter zweimal vom Balkon gesprungen war, um sich umzubringen, sich stattdessen aber nur so ziemlich jeden Knochen im Körper gebrochen hatte. Janie hatte die drei weggehen sehen, zusammen mit einer fremden Frau, die überhaupt nicht nett wirkte. Ihr waren Schauer über den Rücken gelaufen, und sie war nachts schreiend aus dem Schlaf aufgeschreckt, weil sie die Szene noch einmal geträumt hatte.
Nein. Ein Heim war das Schlimmste.
Sie fing wieder an zu weinen.

D
oris merkte endlich, dass ihre Zigarette nicht brannte, und zündete sie erneut an. Das tiefe Inhalieren schien sie ein wenig zu beruhigen. Sie musterte ihre Tochter, die wie ein Häufchen Elend im Sessel kauerte.
»Also - wirst du mir nun sagen, was du dort zu suchen hattest? Eines dieser Traumhäuser, die sie dort im Schaufenster hatten, wolltest du ja wohl nicht ernsthaft kaufen, oder?«
Janie schwieg. Die ganze Zeit über hatte sie gedacht: Wenn ich Mummie alles erzähle und erkläre, dann wird sie mich verstehen. Dann wird sie nicht böse sein, sondern mir vielleicht sogar helfen, den netten Mann zu suchen. Sie wird froh sein, dass er mir etwas so Schönes schenken will!
Aber auf einmal war sie sich da gar nicht mehr so sicher. Mummie war so schrecklich böse.

D
oris kniff die Augen zusammen. »Weißt du, wenn du mir nicht sagst, was los ist, dann muss ich doch langsam befürchten, dass ich mit deiner Erziehung völlig überfordert bin. Und dann muss ichÉ«
»Nein!« Janie blickte hoch. »Ich will nicht in ein Heim! Bitte, Mummie! Nicht!«
»Dann sag mir, was los ist.« Doris warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Und zwar schnell. Ich muss ins Geschäft zurück.«
»Es war wegen dem Mann«, flüsterte Janie.
»Wegen welchem Mann?«, fragte Doris.
»Wegen der GeburtstagsfeierÉ«
Doris seufzte. »Ich verstehe nur Bahnhof. Welche Geburtstagsfeier? Deine?«
»Ja. Ich wollte doch so gern eine Party mit meinen Freunden feiern.«
»Ich weiß. Wir haben das ja hinlänglich diskutiert.«
»Der Mann hat gesagt, er kann mir helfen.«
»Wer ist denn dieser Mann?«
»Ich weiß es eben nicht. Ich weiß nicht seinen Namen. Das ist ja das Schlimme. Und er kommt nicht mehr in den Schreibwarenladen, obwohl er erst gesagt hat, dass er jeden Montag dort ist. Wegen mir wollte er sogar am Samstag kommen und mir sein Haus zeigen, aber da hattest du diesen verdorbenen Magen und warst total krank, und ich konnte nicht weg. Ich glaube, er ist sauer auf mich, dabei konnte ich doch gar nichts dafür. Er ist an keinem Montag mehr gekommen, und nun habe ich gedacht, vielleicht kommt er an einem anderen Tag. Deshalb bin ich heute dorthin gegangen. Ich weiß, ich hätte nicht schwänzen dürfen, aber ich wollte doch so gernÉ«

D
oris starrte ihre Tochter aus weit aufgerissenen Augen an. Ihre Zigarette glühte vor sich hin, ohne dass sie noch einmal einen Zug genommen hätte.
»Verstehe ich das richtig? Ein wildfremder Mann wollte dir helfen, eine Geburtstagsparty zu organisieren?«
»Ja. Er sagt, er hat ein großes Haus und einen großen Garten, und er weiß, wie man tolle Kindergeburtstage feiert. Er wollte mir alles zeigen, und wir wollten zusammen überlegen, wie wir den Garten oder den Keller schmücken. Er sagte, ich kann so viele Kinder einladen, wie ich will. Deshalb habe ich ja dann auch die Karten gekauft.«
Doris sank langsam auf das Sofa, das hinter ihr stand. Janie stellte erstaunt fest, dass ihre Mutter noch bleicher im Gesicht geworden war als zuvor.
»Mein Gott«, flüsterte Doris.
»Er ist wirklich nett, Mum«, sagte Janie.
Eine lange Minute herrschte völliges Schweigen im Zimmer. Dann war die Zigarette bis auf DorisÕ Fingerkuppen heruntergebrannt. Doris schrie leise auf und warf die Kippe in den Aschenbecher auf dem Tisch.
»Wo hat er dich angesprochen?«, fragte sie.
»In dem Laden. Ich stand dort und schaute immer wieder die Einladungskarten an. Er fragte mich, ob ich bald Geburtstag hätte. Ich habe ihm dann erzählt, dass du nicht möchtest, dass ich meine Freunde einlade und dass ichÉ dass ich ziemlich traurig deswegen binÉ«
Doris nickte langsam. Dann stand sie plötzlich entschlossen auf, streifte ihren weißen Kittel ab und griff nach ihrer Handtasche.
»Komm«, sagte sie zu ihrer Tochter.
Janie sah sie unsicher an. »Wohin?«
»Wir gehen jetzt sofort zur Polizei. Dort wirst du alles erzählen, was du mir eben erzählt hast, und du wirst diesen Mann ganz genau beschreiben. Das ist wichtig.«
»Mummie! Nicht zur Polizei! Ich will nicht in ein Heim!«
»Du kommst nicht in ein Heim. Ganz bestimmt nicht. Aber wenn wir Glück haben, kommt dein neuer Freund ins Gefängnis.«
»Er hat aber doch gar nichts gemacht!«
Doris schloss für einen Moment die Augen. »Nein«, sagte sie dann leise, »mit dir hat er nichts gemacht. Es hat nicht funktioniert. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 10.04.2007